Elif Shafak

Spiegel der Stadt

Spiegel der Stadt erhellt einen der vielen dunklen Ecken der Geschichte. Elif Shafak rückt in ihrem packenden historischer Roman die Sephard:innen in den Fokus. Sie widmet sich der Katastrophe der Vertreibung der Jüd:innen im 16. Jahrhundert aus Spanien und deren ausdrücklich begrüssten Aufnahme in Venedig und im osmanischen Istanbul. 

Spiegel der Stadt  beginnt aus der Perspektive eines Ich-Erzählers, der auf der Suche nach seiner Geschichte nach Istanbul gereist ist. Seine Gesprächspartnerinnen sind dabei die personifizierte Stadt Istanbul und die Muslima Zisan Kadin, die Haushälterin. Schon nach ein paar Seiten schiebt sich jedoch die Geschichte der Familie Pereira dazwischen und der Ich-Erzähler kommt erst in der Mitte und am Schluss des Romans erneut zu Wort. Inwiefern er mit den Pereiras verbunden ist oder nicht, möchte ich hier jedoch nicht verraten. Die Familie Pereira gehört zu den Conversos, das heisst, Jüd:innen, die nach dem Alhambra-Edikt von 1492, das nur die Wahl zwischen der Konversion zum Christentum und dem Exil liess, sich für das Bleiben entschieden haben. Doch zunehmend stehen die Conversos unter Generalverdacht, heimlich weiterhin den jüdischen Glauben zu praktizieren. Deshalb sehen sich die Conversos ab 1536 ebenfalls zur Flucht gezwungen, um nicht gefoltert und schliesslich einen grausamen Tod auf dem Scheiterhaufen erleiden zu müssen. Auch die Familie Pereira ereilt dieses Schicksal, nachdem die christliche Nachbarin Elena Rodriguez aus Neid, die Familie beim Prediger Alonso Perez de Herrera angeprangert hatte. Bei der Festnahme ist nur Isabel Pereira und ihr Sohn Andres zuhause. Isabel wird ins Folterhaus Casa Santa gebracht, während Andres von der Nachbarin, die ihr eigenes Kleinkind verloren hatte, gekapert wird. Isabels Ehemann Antonio Pereira, erfolgreicher Arzt und Philosoph und dessen Bruder Miguel, eine Lebemann, können sich dank ihrer Abwesenheit der Verfolgung entziehen: Antonio weilte zu diesem Zeitpunkt in Padua und Miguel in Madrid. Antonio wird im jüdischen Ghetto von Venedig ein neues Leben aufbauen, Miguel flüchtet nach Istanbul. Beide haben wieder jüdische Namen angenommen. Als Isabel überraschenderweise freigesprochen wird, flieht auch sie nach Istanbul, wo sie Dienerin beim Sultan wird. Für Miguel und Isabel ist Istanbul einmal Wind, einmal Tier und einmal Mensch. Istanbul ist ihr Spiegel. 

Elif Shafak verwebt in einer gepflegten Sprache ihr grosses historisches Wissen mit breiten Kenntnissen rund um Volksglauben und Mystik zu einem psychologisch raffinierten Roman. Sie schafft überraschende Bilder und lässt vor uns berührende Gedanken- und Gefühlsräume entstehen. Sehr empfehlenswert! ap  

Klappentext:

Spiegel der Stadt ist ein Roman modernster Machart und die junge Schriftstellerin Elif Shafak versteht es ausgezeichnet, den heutigen Leser, trotz eines ernsthaften Themas, spannend zu unterhalten. Die Geschichte des historischen Romans führt über ganz Europa, beginnt im Spanien der Inquisition in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts und spannt sich über Italien bis zum Osmanischen Reich. Die jüdischstämmige Familie Pereira gerät dabei in die Fänge der Inquisition und muss um ihr Leben und um ihre Existenz bangen. Eine verbotene Liebe dient als Alibi für die nächtliche Verhaftung und das erbarmungslose Durchgreifen der Inquisitoren. Zwei Mitgliedern der Familie gelingt unverhofft die Flucht nach Istanbul, das zu dieser Zeit Rettungsinsel für Tausende von Sepharden (jüdische Flüchtlinge aus Spanien und Portugal) ist und wo sie eine neue Heimat erwartet.

Im Vordergrund des Romans stehen grosse Gefühle, insbesondere die leidenschaftliche Liebe zwischen Isabel und Miguel – gerade sie rücken die historische Realität in fassbare, spürbare menschliche Nähe. Die grossen Gefühle lassen aber genügend Raum für einen realistischen Ausblick auf manche vergessenen oder vielleicht auch verschwiegenen Dimensionen einer dunklen Phase der europäischen Geschichte. Aktualität gewinnt der Roman durch die Thematisierung des Nebeneinanders der drei Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam. Diese Religionen blicken durchaus auf eine Vergangenheit mit anderen Vorzeichen, als uns in jüngster Zeit Politik und Medien nahe legen wollen, zurück.
 Elif Shafak rückt in diesem Roman auch die von vielen Europäern und US-Amerikanern heute noch kultivierte exotische Vorstellung des "Orients" zurecht und karikiert dabei dezent und gelungen berühmte Schriftstellerkollegen aus der Türkei.

Spiegel der Stadt ist ein frühes Buch von Elif Shafak und wurde von ihr original auf Türkisch geschrieben.

Über die Autorin / über den Autor:

Elif Shafak repräsentiert jene selbstbewusste Generation türkischer Literaten, die ihren Platz in der Weltliteratur als selbstverständlich begreifen und ihre türkische Herkunft nicht als Nachteil, sondern als eine kulturelle Bereicherung erleben. In der Türkei ist die 1971 geborene Autorin mit ihren handwerklich gekonnten Romanen aufgefallen, denn die historischen und oft mystischen Themen behandelt sie in ungewohnter Qualität. Sie ist mit Sicherheit eine Autorin, die viel von sich reden machen wird und besondere Aufmerksamkeit verdient.

Preis: CHF 28.90
Sprache: Deutsch (aus dem Türkischen von Beatrix Caner)
Art: Broschiertes Buch
Erschienen: 2004 (2000)
Verlag: Literaturca
ISBN: 978-3-935535-06-9
Masse: 388 S.

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