Domenico Starnone

Via Gemito

Via Gemito ist eine Strasse. In der Strasse befindet sich der Wohnblock mit der Wohnung der Familie Starnone. Via Gemito ist eine Strasse in einem volksnahen Quartier. Das Quartier gehört zur Stadt Neapel. Dort lebt eine mediterrane Bevölkerung mit einer besonderen Sprache – einer Explosion an dialektalen Wortkreationen und saftigen Flüchen. Schon mit dem ersten Satz des Romans Via Gemito von Domenico Starnone (2001) wird der Leser mit wuchtigen Worten in eine konfliktvolle Vater-Sohn Beziehung hineingezogen, die sich in einer kinderreichen neapolitanischen Angestelltenfamilie abspielt. Der Autor erinnert sich an seine Kindheit und Jugendzeit in Neapel, die ihn zurück in die Kriegs- und Nachkriegsjahre des zweiten Weltkrieges führt. Neapel bleibt auch nach dem Krieg eine chaotische, unruhige Stadt. Um sich da zu behaupten, braucht es "Männer mit Eiern" – um in der Sprache der Hauptfigur, dem Vater Federì, zu bleiben. Man muss laut und lärmig, selbstsicher und arrogant, ja sogar zur Gewaltanwendung bereit sein. Ein Mann muss zuschlagen könne, wenn es denn nötig sein sollte. Kampfbereit stellt "Mann" sich den Widrigkeiten des täglichen Lebens. Es wird gepöbelt und geflucht. Wenn ein Begehren nicht erfüllt, ein Ziel nicht erreicht werden kann und die Frustration übermächtig wird, so legt man sich die Wirklichkeit nach eigenem Gutdünken zurecht. Man schummelt und belügt sich selbst, erkämpft sich so aber immerhin freie Fahrt auf der mit Überraschungen gespickten Fahrbahn des Lebens. Am meisten nützt die Wut. Sie macht kämpferisch.

So ein Mann ist der Vater des Erzählers. Federì ist wie ein Vulkan. In ihm brodelt und rumort es. Die Ausbrüche können lebensbedrohlich für die Umgebung sein. Um Federì schart sich die Familie: die Ehefrau Rusiné, die Kinder und die Nonna, Rusinés  Mutter. Sie alle, wie auch einige Verwandte und Arbeitskollegen, fürchten das aufbrausende Familienoberhaupt. Es gibt in dieser turbulenten Familiensituation jedoch auch Momente der Bewunderung und Verehrung für Federì. Sein Erstgeborener, der Erzähler, kommt nicht von seiner übermächtigen Vaterfigur los. Sie bringt ihn in direktem Gegenüber mit seinem Vater zum Verstummen und in der Vorstellung des Kindes fast zum physischen Verschwinden. Eine Art Stupor erfasst den Jungen bei den nicht seltenen wortreichen und gewalttätigen Ausbrüchen des Vaters, die sich in der engen Wohnung mit den alten Möbeln, den sich duckenden Kindern und den beiden erduldenden Frauen abspielen. Aber auch beim Kind Domenico gibt es da nicht nur die Angst und die Furcht. Er empfindet manchmal für seinen unverschämten Vater auch eine verstörende Verehrung. Dieser Mann und Vater stellt sich bei jeder Bedrohung von aussen, bei jeder Beleidigung schützend vor seine "Aufzucht". Das Kind merkt instinktiv, dass das Leben eines Angestellten im Neapel der fünfziger Jahre kein Zuckerschlecken ist. Respekt zollt der Erstgeborene seinem Vater auch für sein malerisches Werk. Dieser Federì, der 1917 geboren ist und in einem proletarischen Quartier aufwächst, hat sich hoch gekämpft und die Zeit des Faschismus und des Krieges unbeschadet überstanden. Er wurde Eisenbahner und am Ende seiner Laufbahn Bahnhofsvorstand der ersten Klasse im Bahnhof Neapel. Federì ist auch ein Autodidakt der Malerei. Diese Kunst ist sein wahrer und einziger Lebenssinn. So schmerzt es besonders, wenn ihn niemand aus der Kulturwelt seiner Zeit wirklich ernst nimmt. Fluchend und grossmäulig wehrt sich der verkannte Maler, wenn er von Malerkollegen an den Rand gedrängt oder übertölpelt wird.

Als dieser Vater in hohem Alter stirbt, begibt sich der Sohn in die Strassen seiner Kindheit zurück und macht sich auf die Suche nach den vom Vater gemalten Bildern. Wohnungen, Strassen, Quartiere, ja die ganze Stadt Neapel, entfalten sich vor den Augen des Lesers. Starke, sinnliche Bilder evozieren das Leben von damals: Grossmütter und Grossväter, Tanten, Onkel, Kusinen und Vetter, atemberaubende junge Schönheiten, Arbeiter, Angestellte, Künstler, Journalisten, Proletarier, Kommunisten treten auf der Bühne des Lebens auf und wieder ab. Die Jahre ziehen vorbei: Faschismus, Krieg, Wiederaufbau, langsamer sozialer Aufstieg und endlich ein materiell angenehmeres Leben. Mittendrin, auf  fast jeder Seite des Buches, der grossspurige Übervater.

Das Buch ist Rusiné, der Mutter des Autors, gewidmet. Rusiné und Federì, was für ein Paar! Lebenslust und Energie erfüllt die beiden am Anfang ihrer Beziehung; im Verlauf der Geschichte verwandelt sich diese Haltung in Frustration und zorniges Aufbegehren beim Vater, in Enttäuschung, Krankheit und leisen Tod bei der Mutter. Der Erstgeborene schreibt aus der Erinnerung, mit schlechtem Gewissen gegenüber seiner Mutter, deren Niedergang er passiv miterlebt hat. Die Worte sprudeln aus ihm und beschreiben die Lebensmomente seiner neapolitanischen Grossfamilie: Eine in der Jugend wunderschöne, sinnliche Rusiné wird – vom Leben in die Knie gezwungen –  zu einer sich aufopfernden und immer stiller werdenden Ehefrau und Mutter. Der  junge, kraftstrotzende Federì hingegen wandelt sich zunehmend zu einem masslos eifersüchtigen und von der Malerei besessenen Ehemann und Vater. In der Erinnerung des Erzählers sprengen die leeren Leinwände und die fertig gemalten Bilder die engen Verhältnisse in der alten Wohnung der Via Gemito und in der neuen am Corso Arnaldo Lucci.

Der Erzähler schaut verzweifelt, erstaunt, traurig, gerührt, bewegt auf seine Familie und Neapel. Es ist ein Buch über Liebe und Hass einer chaotischen, sinnlichen und von Widersprüchen durchsetzten Kindheit und Jugend. Sie prägte den Autor Domenico Starnone ein Leben lang. Das Buch malt auch ein Sittengemälde Neapels der Nachkriegszeit. Der mehrfach mit Preisen ausgezeichnete Roman ist packend und beeindruckend. Angela Willimann

Klappentext:

Der in Neapel aufgewachsene und in Rom lebende Autor erzählt von seinem Vater und taucht dabei in seine Kindheit ab. In dem mehrfach ausgezeichneten Roman kommt vieles zur Sprache: Evakuierung im Krieg, Not und Überlebenskampf in der Nachkriegszeit, dunkle Geschäfte, Zusammenhalt und Streit in einer typisch süditalienischen Grossfamilie, soziale Strukturen und das buntfaszinierende Leben in Neapel. Vor allem aber geht es um Lebenslust, Enttäuschungen und zorniges Aufbegehren einer einzigartigen Vaterfigur und in der Auseinandersetzung damit um die Nöte, Ängste und Probleme eines Heranwachsenden. Der Sohn versucht, die Wutausbrüche des Vaters gegen die Mutter, die manchmal in brutale Handgreiflichkeiten ausarten, im Nachhinein zu verstehen und sich mit seinem "Erzeuger" zu versöhnen, auch dessen absurde Lügengeschichten als Teil einer subjektiven Wirklichkeit zu begreifen, nicht zuletzt seine Zerrissenheit zwischen dem Brotberuf als Eisenbahner und der tief empfundenen Berufung zum Künstler. So wird Starnones Roman, dessen mitreissender Erzählduktus gleichermassen überzeugt wie das aussergewöhnliche literarische Niveau, auch zur Auseinandersetzung mit dem Wesen der Kunst, der Bedeutung, dem Kunstbetrieb und dem "Wert" von Kunstwerken sowie dem Schaffensprozess kleiner Meister und grosser Genies.

Über die Autorin / über den Autor:

Domenico Starnone, geboren 1943 in Neapel, lebt als Publizist und Autor in Rom. Einige seiner Romane dienten als Filmvorlage, wie Denti (1994), der 2000 von Gabriele Salvatore verfilmt wurde. Autor zahlreicher Drehbücher, u.a. Del Perduto Amore (1998, Regie: Michele Placido). Der Roman Via Gemito erschien 2001 bei Feltrinelli und wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem begehrten Premio Strega. Sein neuester Roman Labilità landete gleich nach Erscheinen weit oben auf den italienischen Bestsellerlisten (auf deutsch bei Haymon im Herbst 2006).

Preis: CHF 31.90
Sprache: Deutsch (aus dem Italienischen von Gerhard Kofler)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2005
Verlag: Haymon
ISBN: 978-3-85218-476-0
Masse: 445 S.

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