Javier Cercas

Der falsche Überlebende

Die Geschichte ist unglaublich, aber wahr (und leider auch nicht einmalig): Ein Spanier gibt sich als Überlebender eines deutschen Konzentrationslagers aus und wird mit dieser falschen Biographie zum gefragten Zeitzeugen. Dann fliegt er auf. Der Skandal wirft hohe Wellen in den Medien; alle sind entsetzt. Soll man über so eine Person noch ein Buch schreiben? Nein, entschied der Schriftsteller Javier Cercas. Und mit diesem Entscheid fiel ihm eine Zentnerlast von den Schultern, schreibt er auf Seite 23. Ein grossartiger Cliffhanger, denn es folgen weitere 470 Seiten genau über diese Person: Enric Marco. 

1921 in einer Irrenanstalt nahe Barcelona geboren, Automechaniker, (mehrfach) verheiratet, Kinder, führte er 50 Jahre lang ein normales, bürgerliches und eher langweiliges Leben, bis er beschloss, ein Held zu werden. Dazu musste der Katalane seine Vergangenheit neu erfinden. Von nun an behauptete Marco, während des Bürgerkrieges und der Franco-Diktatur Widerstandskämpfer gewesen zu sein. Mit dieser Vita stieg er in den 1970er Jahren bis an die Spitze der anarchistischen Gewerkschaft Confederación Nacional del Trabajo (CNT) auf. Wegen eines Zwistes aus der Gewerkschaft geflogen, wandte er sich der Jugend zu, wurde Anführer einer Elternvereinigung, was ebenfalls mit Streit endete. Aber Marcos Hunger nach Ruhm war noch nicht gestillt, und so machte er sich 1999 zu einem ehemaligen Häftling des KZ Flossenbürg nahe des damaligen Sudetenlandes. Seine Häftlingsnummer 6448 stahl er einem tatsächlichen KZ-Opfer mit ähnlichem Familiennamen. "Der falsche Überlebende" hielt Vorträge an Schulen und gab Interviews in den Medien, wurde sogar Vorsitzender der "Amical de Mauthausen", einer Vereinigung von ehemaligen KZ-Häftlingen. Als er 2005 anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung von Mauthausen als Gastredner auftreten sollte, liess ihn der spanische Historiker Benito Bermejo, der ihm schon lange auf die Schliche gekommen war, auffliegen. 

Noch zehn Jahre später erinnert man sich in Spanien an diese Affäre. Warum also hat Javier Cercas sie nochmals aufbereitet? Der Schriftsteller, der im Oktober 2019 den Premio Planeta erhalten hat, Spaniens wichtigsten Literaturpreis, ist ein profunder Kenner der neueren spanischen Geschichte. Auch für dieses Buch stieg er tief in die Archive, führte viele Gespräche, auch mit Marco selber, und reicherte so das bereits Bekannte mit neuen Fakten an. Was den Text über eine Nacherzählung hinaushebt, sind die Fragen, die Cercas sich und den Lesenden stellt: Was ist das für ein Mensch, der sich und die Öffentlichkeit so schamlos belügen kann? Was ist das für eine Gesellschaft, die sich so lange belügen lässt und sich so schwer tut mit der eigenen Vergangenheit? Ist das Darstellen einer solchen Ungeheuerlichkeit nicht auch eine Form von Rechtfertigung? War der Fantast Enric Marco überhaupt ungeheuerlich? Einmal sagt eine Befragte, Marco habe mit seinen Lügen ja niemandem geschadet; zu lügen sei kein Verbrechen. Als Leserin muss man diese Ansicht nicht teilen. Cercas schreibt, wie sehr die Medien Marco als KZ-Überlebenden geliebt hätten, denn er konnte flüssig und farbig erzählen, während sich die (echten) Opfer nur stockend und bruchstückhaft erinnern wollten, was Journalisten mühsam gefunden hätten. Nur gehört dieses quälende, gewürgte Sicherinnern zur Realität der (inzwischen alt gewordenen) KZ-Opfer. Wer sich eloquent in die Öffentlichkeit drängt mit seinem doch nur zusammengezimmerten Leiden, der verhöhnt die wahren Überlebenden ein zweites Mal. Kein Verbrechen?

Der Schriftsteller macht alles transparent: seine Zweifel am Sinn seines Tuns, sein Ringen mit dem Stoff, seine Ambivalenz gegenüber Marco, über den er nicht einfach den Stab brechen, sondern den er verstehen, dem er durch die Kraft der Literatur die Maske vom Gesicht reissen wollte. Den Betrüger mit der Wahrheit vor sich selber retten: Darum schrieb er das Buch, darum schälte er Schicht um Schicht allen Schwindel ab, wie man eine Zwiebel häutet. Es blieb kein Kern. Was bleibt, ist ein spannender "Roman ohne Fiktion", wie Cercas sein Werk nennt. Maya Doetzkies

Klappentext:

Fast 30 Jahre lang hatte sich der Katalane Enric Marco als Überlebender des deutschen Konzentrationslagers Flossenbürg ausgegeben, hatte als Präsident der Vereinigung ehemaliger spanischer KZ-Häftlinge sein Leiden öffentlich gemacht. 2005 kam es zum weltweiten Skandal, als ein Historiker aufdeckte, dass Marcos Geschichte nichts als eine Lüge war. Tatsächlich war er im Krieg freiwillig nach Deutschland gegangen, um in einer Kieler Werft zu arbeiten und so dem spanischen Wehrdienst zu entgehen. In einem KZ war er nie gewesen. Doch auch als seine Lebenslüge aufflog, hielt Enric Marco weiter an seinem fiktionalen Heldenleben fest.

In seinem preisgekrönten Buch umkreist Javier Cercas diese ambivalente Gestalt, mit Unbehagen und doch fasziniert – denn vielleicht steckt in dieser Geschichte mehr von uns allen, als wir es wahrhaben möchten?

Über die Autorin / über den Autor:

Javier Cercas, geboren 1962 in Ibahernando in der spanischen Extremadura, lebt als Schriftsteller, Publizist und Universitätsdozent in Girona. Sein Roman Soldaten von Salamis machte ihn international bekannt. Sein Werk, darunter Anatomie eines Augenblicks und der Roman Outlaws wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen bedeutenden Literaturpreisen ausgezeichnet. Für Der falsche Überlebende erhielt Cercas u.a. den Prix du livre européen 2016 und den chinesischen Taofen-Preis 2015 für das beste ausländische Buch.

Peter Kultzen, geboren 1962 in Hamburg, studierte Romanistik und Germanistik in München, Salamanca, Madrid und Berlin. Er lebt als freier Lektor und Übersetzer spanisch- und portugiesischsprachiger Literatur in Berlin.

Preis: CHF 33.90
Sprache: Deutsch (aus dem Spanischen von Peter Kultzen)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2017 (2014)
Verlag: Fischer
ISBN: 978-3-10-002461-9
Masse: 495 S.

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