Der Bus hat sich soeben in Bewegung gesetzt, der Motor röhrt dumpf und unregelmässig. Der Platz liegt still in den Nebelschwaden des Morgengrauens, einzig die ironisch flehende Stimme eines Pfannenverkäufers ist zu hören. Da kommt ein dunkel gekleideter Mann über den Platz gerannt, der Ticketverkäufer sieht ihn und sagt zum Chauffeur: "Moment!" Doch da streckt ein Schuss den Mann, der eben auf das Trittbrett springen wollte, nieder. Die Polizei wird gerufen. Obwohl bald an die fünfzig Leute auf dem Platz stehen, hat niemand etwas gesehen, und weder der Ticketverkäufer noch der Buschauffeur können sagen, wer im Bus sass.
Schon in der Anfangsszene dieses 1961 zum ersten Mal erschienenen Romans des sizilianischen Autors Leonardo Sciascia taucht man als Lesende tief ein in die Atmosphäre der Angst, des Wegschauens und des Schweigens, welche den Umgang der gewöhnlichen Leute mit der Cosa nostra bestimmt. Das schmale Buch ist nicht einfach ein Krimi, sondern ein eigentlicher Klassiker über die tiefreichende Prägung der sizilianischen Gesellschaft durch die Mafia. Unbedingt lesenswert und auch heute noch wichtig, um Sizilien besser zu verstehen, wie mir meine italienische Freundin vor unserer Reise auf die Insel empfahl.
Capitano Bellodi, der den Fall untersucht, ist jung, kompetent und motiviert. Aber, wie die Locals schon beim ersten Blick feststellen: Er kommt vom Kontinent und "die vom Kontinent sind nett, aber sie verstehen nichts". So hüllen sich auch die Brüder des Ermordeten, die zusammen eine kleine Bau-Kooperative betreiben, in beredtes Schweigen, zu gefährlich wäre es, Bellodis Theorie vom schwarzen Schaf, der einzigen Baufirma, die kein Schutzgeld zahlt, zuzustimmen. Dafür treffen auf dem Polizeiposten verschiedene anonyme Briefe ein, die hinter dem Mord die Rache eines Eifersüchtigen oder eine Verwechslung vermuten.
Von Angst zerfressen wird auch der Indikator Parinieddu, den Bellodi vorgeladen hat, er hat die Lüge, die er Bellodi auftischt, in allen Details vorbereitet, doch der Capitano, der ihn nicht wie einen Hund behandelt wie die anderen Polizisten, vermag ihm doch noch etwas mehr zu entlocken und kann eine vielversprechende Fährte aufnehmen. Andererseits muss der Capitano aus dem Norden auch die Erfahrung machen, dass andere Zeug:innen sich von den kruden Drohungen seiner Untergebenen mehr beeindrucken lassen, als von seiner Freundlichkeit. Auch scheinen die meisten ein Interesse daran zu haben, dass sich möglichst schnell eine Lösung des Falls findet und dieser sich als gewöhnlicher Kriminalfall erweist, welcher die sozialen Strukturen nicht in Frage stellt.
Die Mafia-Strukturen sind komplex und undurchsichtig und mit dem auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiterbestehenden Faschismus verbandelt. Auch in Rom ist die Cosa nostra vertreten, durch Abgeordnete und Würdenträger, die sich als rechtschaffene katholische Familienväter und verantwortungsvolle Ehrenmänner inszenieren. Die Mafia, sagen sie, sei ein Hirngespinst von Leuten, die keine Ahnung von Sizilien hätten. Sciascia zeigt – zu einem Zeitpunkt, als die Existenz der Mafia von der breiten Öffentlichkeit noch nicht wirklich wahrgenommen wurde – überzeugend auf, wie Politik und Kriminalität ineinandergreifen, wie sich Strukturen einer ungerechtfertigten Macht aufbauen und konsolidieren durch Drohungen und Gewalt, Angst und Schweigen.
Capitano Bellodi gelingt es, recht weit in diese verschwiegenen Strukturen vorzudringen. Aber ein wirklicher Erfolg bleibt ihm versagt. Erschöpft zieht er sich in einen einmonatigen Urlaub in seiner Heimatstadt Parma zurück und muss dort erfahren, dass der von ihm identifizierte Mörder schliesslich dank eines falschen Alibis freigekommen ist und der Fall ad acta gelegt wurde. Doch er liebt Sizilien und wird dahin zurückkehren, auch wenn er sich den Kopf einrennen wird, das schwört er sich.
Sciascia schrieb, er habe ein Jahr daran gearbeitet, seine erste Fassung dieses Romans zu kürzen. Geblieben ist ein ungeheuer dichter, farbiger, mitreissender Text von gut 100 Seiten, voller präziser Beobachtungen und sprachlicher Perlen – auch heute noch eine faszinierende Analyse von der Unterwanderung einer Gesellschaft durch mafiöse Strukturen. Elisa Fuchs
Klappentext:Sciascias erster und berühmtester Roman: Am hellichten Tag wird auf der Piazza ein Bauunternemer umgebracht. Gerade als er in den schon anfahrenden Bus springen will, fallen die beiden Schüsse. Fahrer, Fahrgäste und Schaffner, niemand hat etwas gesehen. Capitano Bellodi, ein höflicher Herr aus dem Norden, soll den Fall aufklären. Ärgerlicherweise lässt er nicht locker und fängt an, der Sache auf den Grund zu gehen ... Zu einem Zeitpunkt, als die Öffentlichkeit die Existenz der Mafia noch leugnet, beschreibt Sciascia in diesem 1961 erschienenen Roman erstmals die Strukturen der Mafia und charakterisiert meisterlich ihre Gestalten: den Täter, den Auftraggeber und den Padrone.
Über die Autorin / über den Autor:Leonardo Sciascia wurde 1921 in Racalmuto auf Sizilien geboren. Schon während seiner langjährigen Tätigkeit als Volksschullehrer arbeitete er nebenbei als Schriftsteller und Journalist. Ab 1957 widmete er sich ausschliesslich dem Schreiben. Sciascia verfasste Kriminalromane, Erzählungen, Essays und Gedichte. Er starb 1989 in Palermo.
Preis: CHF 17.50