Alice Renard

Hunger und Zorn

"Ich war nicht dafür gemacht, der Vater eines solchen Kindes zu sein", sagt Camillio, der als Fassadenreiniger arbeitet. "Wenn deine Augen so durchdringend sind, wenn wir deinen Blick nicht zu fassen kriegen, dann, weil du Dinge begriffen hast die wir niemals begreifen werden", erkennt Maude. Die beiden Eltern sind überfordert mit Isor, ihrer Tochter, die so ganz anders ist als andere Kinder. Sie spricht nicht, scheint sich für absolut nichts zu interessieren, was sie ihr beibringen wollen, gibt sich unbändigen Wutanfällen hin oder tanzt stundenlang. Die ärztlichen Abklärungen führen zu keiner klaren Diagnose. Irgendwann waren sie es müde, Isor zum Objekt von weiteren medizinischen Untersuchungen zu machen und haben sich mit ihr zurückgezogen in die enge und abgeschiedene Welt ihrer Wohnung.

Der erste Teil des Buches besteht aus kurzen tagebuchartigen Notizen von Maude und Camillo – eher beobachtend, Erklärungen suchend und manchmal genervt jene des Vaters, gefühlsbetonter und spontaner jene der Mutter. Sie ergeben in ihrer Kürze und Unmittelbarkeit einen tiefen Einblick in dieses sonderbare Familienleben, wo Staunen und Verwirrung, Überdruss und Hoffnung sich abwechseln. Bereits hier ist man als Leserin fasziniert von der sprachlichen Präzision und der Dichte des Textes der jungen Autorin. Alice Renard, 2002 in Paris geboren, begann bereits mit 14 Jahren zu schreiben und war erst 21 als ihr Debutroman Hunger und Zorn erschien.

Im zweiten Teil erzählt Lucien, ein ehemaliger Fotograf und desillusionierter alter Mann, von Isor, die eines Tages in sein Leben trat und es völlig veränderte. Isors Eltern hatten sich dazu überwunden, den zurückgezogen lebenden Nachbarn zu fragen, ob er ein paar Stunden zu Isor schauen könnte, während Handwerker ihre defekte Heizung flickten. Der Lärm und die fremden Menschen würden das Kind überfordern. Zwischen der unterdessen 13-jährigen Isor und dem Mittsiebziger Lucien baut sich langsam eine ganz besondere Beziehung auf. Beide bewerten nicht, erwarten nichts und lassen sich doch aufeinander ein. Isor, die schon vorher manchmal aus der elterlichen Wohnung verschwand, um Streifzüge in der Natur zu unternehmen, verbringt immer mehr Zeit beim Nachbarn. Man sieht der jungen Autorin die etwas enge Sicht auf den 76-jährigen als vom Alter gezeichneten Mann und seine manchmal leicht pathetisch wirkenden Gefühlsäusserungen nach. Es geht vor allem um Isor, die sich mithilfe von Lucien und gleichzeitig aus ihrer inneren Kraft heraus nach und nach soviel Welt aneignet, wie sie braucht, um erwachsen werden zu können, über Spiele, Musik und Sprache.

Im dritten Teil schliesslich schreibt Isor Briefe an ihre Eltern, von weit weg. Denn ja, sie kann unterdessen sprechen und auch schreiben, etwas unbeholfen manchmal, aber echt und ausdrucksstark. Lucien hat einen Schlaganfall erlitten. Ausgerechnet Maude, die beim Rettungsdienst arbeitet, wurde in seine Wohnung gerufen. Doch Isor ist nicht aufzufinden beim Nachbarn. Ganz alleine hat sie sich aufgemacht nach Italien, um etwas nachzugehen, das Lucien seit langem bedrückt. In ihrer Unvoreingenommenheit und Furchtlosigkeit gelingt es ihr wie selbstverständlich, das Ziel in Sizilien und die gesuchten Menschen zu erreichen. Dort lernt sie schwimmen und radfahren, teilt eine Zeitlang das Leben von Ani, deren Ziegen und derem Hund auf dem Land bei Catania und nimmt Schritt für Schritt die Welt in Besitz, die, so realisiert sie, auch für sie bestimmt ist.

Man sagt oft von Büchern, dass sie einen eintauchen lassen in andere Welten. Selten trifft es so stark zu wie bei diesem Buch. Mit welcher Differenziertheit, Feinfühligkeit und auch sprachlichem Können Alice Renard die Lesenden in die intensive Lebens- und Gefühlswelt einer hypersensiblen jungen Frau eintauchen lässt, ist überwältigend. Elisa Fuchs

Klappentext:

Wenn die kleine Isor von ihren Streifzügen zurückkehrt, kann ihre Mutter nur erahnen, wo sie war. Mit den Fingern löst sie die Zöpfe der Tochter, findet Löwenzahnblüten, Grashalme, einen Käfer. Erzählen wird Isor nichts – denn Isor ist nicht wie andere Kinder. Sie spricht nicht, lernt nicht, lebt in stummen Gedanken und tobenden Wutausbrüchen. Gefangen in einer Realität, die nicht die ihre ist, treibt sie ihre Eltern in die Verzweiflung. Bis sie eines Tages auf Lucien von nebenan trifft und in dem vorsichtigen, einsamen Alten eine verwandte Seele erkennt.

Alice Renard erzählt von einem ungewöhnlichen Mädchen und einer ungleichen Freundschaft, vom Brodeln unter der Oberfläche, vom Mythos der Normalität und der Suche nach einer Welt, die gross genug ist für das Unerwartete.

Über die Autorin / über den Autor:

Alice Renard, geboren 2002 in Paris, studierte mittelalterliche Literatur an der Sorbonne. Sie beschäftigt sich intensiv mit den Themen Neurodiversität und Hypersensibilität. Im Alter von sechs Jahren wurde Renard selbst als frühreif eingestuft, mit vierzehn Jahre begann sie zu schreiben. 2023 erschien ihr Debütroman Hunger und Zorn, der für den Prix Fémina, den Prix du Monde und den Prix des lectrices ELLE nominiert war und mit dem Prix Méduse und dem Prix littéraire de la Vocation ausgezeichnet wurde.

Katharina Meyer, geboren 1979, absolvierte ihr Übersetzerstudium in Düsseldorf und Santiago de Compostela. Sie übersetzt aus dem Französischen, Englischen und Spanischen.

Lena Müller, geboren 1982, studierte Kultur- und Literaturwissenschaften in Paris und Hildesheim. Sie übersetzt aus dem Französischen und arbeitet als Autorin.

Preis: CHF 30.00
Sprache: Deutsch (aus dem Französischen von Katharina Meyer, Lena Müller)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2025 (2023)
Verlag: Unionsverlag
ISBN: 978-3-293-00627-0
Masse: 160 S.

zurück