Atef Abu Saif

Leben in der Schwebe

Naîm, Besitzer einer Druckerei im Lager in Gaza, wird von einer Kugel getroffen, als er sein Geschäft am Morgen früh aufschliessen wollte. Ist er nun ein Märtyrer oder ein Opfer? Daran entbrannt sich die Debatte zwischen Salmân, dem aus Italien angereisten Sohn Naîms, und Nasr, dessen Neffe. Eine Debatte, die sehr viel mit dem Leben in Gaza zu tun hat.

Nach der Beerdigung des Vaters bleibt Salmân, der eigentlich seit Jahren im Ausland lebt, in Gaza, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Verantwortung in Gaza und gegenüber seiner Familie zu übernehmen und einer eigenartigen Lethargie, die jegliche Initiative zum Verschwinden bringt. Da wird er auch von der Regierung grundlos für einige Tage in einen Folterkeller gesperrt, sein Freund kann sich ein Ausreisevisum nur durch regelmässiges Beten in der Moschee erwirken und der Hügel mitten im Lager soll nicht mehr grün bleiben, sondern von einer Moschee, einem Polizeiposten und einem riesigen Kaufhaus in Besitz genommen werden.

Atef Abu Saifs Roman spielt 2011 in Gaza. In Leben in der Schwebe treten unzählige Personen auf, lebende, bereits verstorbene, an die man sich erinnert. So wie auch das Leben selber nicht nur das eine Leben ist, das gerade gelebt wird. Da sind auch alle Leben, die man nicht leben kann und die Leben, die die Vorfahren nicht haben leben können, mit eingeschlossen. So wird jede Person, die Saif in seinem Buch auftreten lässt, zu einer kleinen Erzählung für sich, denn nicht nur ihr aktuelles Leben ist wichtig, sondern auch ihre Geschichte und die Geschichte ihrer Vorfahren. Saif macht dadurch den Alltag in Gaza und die Atmosphäre sehr greifbar und dieses "Leben in der Schwebe" nachvollziehbar. cn

Klappentext:

Der etwa 60 jährige Naîm ist Inhaber eines Copy-Shops, in dem Poster von Gefallenen („Märtyrern“) produziert werden. Als er im Jahr 2011 durch einen Blindgänger getötet wird, entsteht zwischen seinem Sohn Salmân, und seinem Neffen Nasr, eine Debatte, ob Naîm Held oder Opfer ist – eine Grundsatzdebatte, die das ganze Buch durchzieht.

Später kommt es zu heftigen Zusammenstössen zwischen der Bevölkerung des Lagers und der Gaza-Verwaltung, als es um die Bebauung des Hügels geht, auf dem u.a. Naîms Haus steht. Diese Zusammenstösse zeigen den Versuch der Gesellschaft, sich gegen die wachsende Machtclique zu wehren, die sich nicht scheut, auch die Religion mittels mehr oder weniger Gewalt in ihre Dienste zu nehmen.

Der Roman ist ein interessantes und eindrucksvolles "Dokument" des Palästina-"Problems" vom besonderen Blickwinkel des Gazastreifens aus.

Dieser Roman ist im Jahre 2014 erschienen. Er steht also in keinerlei unmittelbarem Zusammenhang mit den Ereignissen in Gaza und anderswo in Palästina/Israel seit Anfang Oktober 2023. Dabei werden im Rahmen einer Art Familienroman die entstehenden Strukturen gezeigt, von manchen begrüsst, von anderen ertragen, von wieder anderen bekämpft. Dabei schont der Autor wohl keine Seite: die naiven Mitläufer werden ebenso kritisiert wie die Profitler oder die Widerständler. Es wird die unerbittlich, unaufhaltsam weiterschreitende Etablierung des neuen Machtapparats gezeigt.

Über die Autorin / über den Autor:

Atef Abu Saif, 1973 in einem Flüchtlingscamp in Dschabaliya am Gazastreifen geboren, ist Forscher am europäischen Hochschulinstitut in Florenz, ehemaliger palästinensischer Kulturminister (2019-2024) und Schriftsteller. Er lehrte Politikwissenschaften an der Al-Azhar Universität in Gaza und ist Chefredakteur für das Magazin Siyasat, herausgegeben vom Institut für öffentliche Politik in Ramallah. Als Autor veröffentlichte er bereits zahlreiche Romane, die teilweise in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Seine Romane A Supsended Life (2014) und Hajji Christina (2016) standen beide 2015 und 2016 in der engeren Auswahl des International Prize for Arabic Fiction. Ausserdem hat er drei Sammlungen von Kurzgeschichten (u.a. The Book of Gaza, 2014, die auch eine seiner eigenen Kurzgeschichten enthält), fünf Theaterstücke und eine Reihe von Sachbüchern über Politikwissenschaft veröffentlicht. Abu Saif verfasste während seiner Zeit im israelischen Krieg in Gaza zwei Tagebücher, in denen er über die täglichen Ereignisse berichtete (The drone eats with me und Don't look left).

Preis: CHF 30.50
Sprache: Deutsch (aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich)
Art: Broschiertes Buch
Erschienen: 2025 (2014)
Verlag: Sujet Verlag
ISBN: 978-3-96202-143-6
Masse: 445 S.

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