Leïla Slimani

Schaut, wie wir tanzen

Der zweite Band von Leïla Slimanis geplanter Trilogie über die Geschichte einer marokkanisch-französischen Familie umfasst die Zeit von 1968 bis in die frühen 1980er Jahre. Sie beginnt mit Jahren des Aufbruchs, wo die neue aufstrebende Bourgeoisie Marokkos tanzt und feiert, das Leben geniesst und an eine strahlende Zukunft glaubt. Die Perspektiven verdüstern sich jedoch bald angesichts des zunehmend repressiven Regimes des Königshauses, der wirtschaftlichen Probleme und der grossen Armut der breiten Bevölkerung.

Amine Belhaj und seine Frau Mathilde, die aus dem Elsass stammt, haben es dank harter Arbeit geschafft, auf ihrem trockenen Land ertragreiche Zitrusfrucht-Plantagen zu errichten und sind nun respektable Eigentümer eines florierenden Gutsbetriebs mit zahlreichen Angestellten. Mathilde bestürmt seit Jahren ihren Mann, dass sie ein Schwimmbassin will, während er sich geniert, den neuerworbenen Reichtum allzu sehr zur Schau zu stellen, ganz zu schweigen von der Unziemlichkeit halböffentlichen Badens. Mathilde ist frustriert, vorzeitig gealtert und "isst, als wollte sie sich bestrafen". Amine hingegen scheint das harte Leben nicht zugesetzt zu haben, im Gegenteil, er ist kantiger geworden, selbstsicherer, und er hat Erfolg bei den Frauen.

In diesem zweiten Band geht es aber vor allem um die Generation ihrer Kinder, sie stehen im Zentrum des gesellschaftlichen Umbruchs, der Widersprüche zwischen westlich geprägter Modernität und ländlicher arabischer Gesellschaft, zwischen der Vorstellung von individueller Freiheit und archaischen Traditionen. Tochter Aïcha studiert in Strassburg Medizin. Unsicher in der fremden Umgebung arbeitet sie viel, ist eine mustergültige und erfolgreiche Studentin und pflegt eine platonische Freundschaft mit einem jüdischen Kommilitonen. Ihr Temperament kommt nur in wenigen Situationen zum Vorschein, etwa bei der Auseinandersetzung mit der rassistischen Zimmervermieterin. Und ihre Leidenschaftlichkeit erwacht, als sie während der Ferien in Marokko Mehdi begegnet, dem wortgewaltigen Ökonomie-Studenten voller Ideale mit dem Übernamen Karl Marx.

Aïchas jüngerer Bruder Selim schwimmt lieber, als sich für die Schule abzumühen. Er tut sich schwer mit seinen Eltern, mit denen er allein auf dem Landwirtschaftsbetrieb in Meknès zurückgeblieben ist. Er wehrt sich gegen die althergebrachten Vorstellungen und die enge Welt seines Vaters und schämt sich seiner Ähnlichkeit mit der Mutter, auf keinen Fall möchte er werden wie sie. Und eines Tages ist er verschwunden. Er hat sich einer Gruppe von europäischen und amerikanischen Hippies angeschlossen, die in der kargen und armen ländlichen Welt Marokkos ihre künstlichen Paradiese zu schaffen versuchen. Mit ihrer konkreten und detailreichen Beschreibung der Hippie-Invasion in Essaouira demontiert Leïla Slimani gekonnt die idyllischen Vorstellungen von den Blumenkindern und zeigt die Auswirkungen dieser Invasion auf die lokale Gesellschaft.

Überhaupt sind in diesem zweiten Band von Slimanis Familiensaga die Schicksale der Personen stärker mit den politischen Entwicklungen des Landes verknüpft als im ersten Band. Das autoritäre Regime von Hassan II (1961-1999) verfolgt Oppositionelle gnadenlos und hegt grosses Misstrauen gegenüber den Intellektuellen und der Bildung ganz allgemein. Die individuellen Möglichkeiten bleiben in diesem Kontext beschränkt. Selma, der unterdessen verwitweten unbotmässigen Schwester von Amine bleibt kaum eine andere Wahl, als eine Art Edelprostituierte zu werden. Omar, Amines jüngerer Bruder, ist vom gewaltbereiten Rebellen zum besonders scharfen Polizisten mit Sonderaufgaben geworden. Auch Mehdi, aus armen Verhältnissen stammend, ist der Versuchung erlegen, eine gutbezahlte und einflussreiche Stelle in der Verwaltung anzunehmen. Er gehört nun zur Oberschicht, trägt das Regime mit und kann nicht verstehen, dass Aïcha, unterdessen seine Frau, so gar nichts hält von Empfängen und Ehrungen und unbedingt als Gynäkologin arbeiten will, im medizinischen Bereich mit dem geringsten Prestige. Doch irgendwo tief drinnen kann er die Ideale nicht vergessen, die er verraten hat. Das ist vermutlich auch der Grund für den Riss, den man bereits spürt in der Beziehung des Paares. Doch noch ist das nur eine Ahnung. Denn das Buch hört mit der Neuigkeit auf, dass die Tochter von Aïcha und Mehdi zur Welt gekommen ist. Da umarmen sich auch Amine und Mathilde, zum ersten Mal seit langer Zeit. Elisa Fuchs

Klappentext:

Im Sommer 1968 kehrt Aïcha Belhaj nach vier Jahren Medizinstudium in Strassburg nach Marokko zurück. In Frankreich gehen die Studenten auf die Strasse, von den Barrikaden tönt der Ruf nach gesellschaftlicher Veränderung. Doch in ihrer Heimat trifft die angehende Ärztin auf eine erstarrte Welt. Die Farm von Aïchas Vater floriert zwar, die Familie allerdings ist zerrissen. Ihr Bruder Selim verschwindet in einer Hippiekommune an der Küste und versinkt im psychodelischen Drogenrausch. Wie soll Aïcha sich behaupten in einem Land, in dem bisher nur Männer Ärzte sind und das von einem autoritären König regiert wird? Am Abend der Mondlandung begegnet sie in einer Strandbar bei Casablanca einem Wirtschaftsstudenten, den alle nur "Karl Marx" nennen. Er ist Teil einer intellektuellen Jugend, die das Land erneuern möchte. Kann Aïcha mit ihm ihren Traum von einem unabhängigen Leben verwirklichen?

Über die Autorin / über den Autor:

Die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani gilt als eine der wichtigsten literarischen Stimmen Frankreichs. Slimani, 1981 in Rabat geboren, wuchs in Marokko auf und studierte an der Pariser Eliteuniversität Sciences Po. Ihre Bücher sind internationale Bestseller. Für den Roman Dann schlaf auch du wurde ihr der renommierte Prix Goncourt zuerkannt. All das zu verlieren, ebenfalls preisgekrönt, erscheint in 25 Ländern. Ihr jüngster Roman Das Land der Anderen ist der erste Teil einer grossen Romantrilogie, die auf der Geschichte ihrer eigenen Familie beruht. In den Essaybänden Sex und Lügen und Warum so viel Hass? widmet Leïla Slimani sich dem Islam und dem Feminismus sowie dem zunehmenden Fanatismus.

Preis: CHF 30.90
Sprache: Deutsch (aus dem Französischen von Amelie Thoma)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2022
Verlag: Luchterhand
ISBN: 978-3-630-87647-4
Masse: 384 S.

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