Kamel Daoud

Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung

Meursault, man erinnert sich, das war doch jener Algerienfranzose im Roman Der Fremde von Albert Camus, der an einem gleissend heissen Nachmittag am Strand einen Mann erschoss, einfach so, aus Angst vielleicht, oder aus Überdruss oder wegen der Hitze. Ein "Araber" war's, namenlos. Kamel Daoud gibt dem Unbekannten in seinem Roman nun einen Namen, Moussa, eine Familie, eine Identität. 

Der Erzähler, Moussas Bruder Haroun, ist erst sieben, als es geschieht. Siebzig Jahre später erzählt er einem Unbekannten in einer Bar in Oran seine Geschichte. Sein Leben war geprägt vom Tod des grossen Bruders und von der Mutter, die ständig mit der unausgesprochenen Forderung hinter ihm stand, er müsse ihren verlorenen Sohn rächen. Schliesslich wird er, zwanzig Jahre nach dem Tod von Moussa, einen Franzosen töten, der in ihrem Hof Zuflucht gesucht hatte. Es geschieht 1962, am Ende des algerischen Befreiungskrieges. Haroun wird festgenommen, aber es wird ihm lediglich vorgeworfen, dass er nicht am Befreiungskampf teilgenommen hat. Sein Verbrechen bleibt ungesühnt, aber es prägt Harouns weiteres Leben, das einsam und freudlos verläuft. Seine einzige Liebe, die junge emanzipierte Meriem, die nach der wirklichen Figur hinter dem "Araber" in Camus' Roman sucht, will sich nicht wirklich auf eine Beziehung mit dem antriebslosen jungen Mann, der immer noch bei der Mutter lebt, einlassen. Dass ihm nicht einmal der Prozess gemacht wurde für den Mord, der sein Leben bestimmte, zeigt Haroun, dass dieser nicht ernst genommen, eigentlich umsonst verübt wurde. Als alter Mann, enttäuscht von der politischen Entwicklung seines Landes nach der Unabhängigkeit und skeptisch gegenüber jenen, die nun in der Religion ihr Heil suchen, verbringt er seine Tage weintrinkend in der Kneipe. Und in seiner Apathie und der Weigerung, sich auf irgend ein Engagement einzulassen, gleicht er auf seltsame Art Camus' Fremden.

Kamel Daoud, bekannt und umstritten wegen seiner in Frankreich veröffentlichen islamkritischen Artikeln, geht es auch in diesem Roman um eine aufklärerische Sicht, die sich an den Auswirkungen der französischen Herrschaft gleichermassen stösst wie an manchen aktuellen Entwicklungen. 2013 in Algerien erschienen, wurde der Roman von einem salafistischen Prediger für blasphemisch befunden und der Autor mit einer Fatwa belegt. Elisa Fuchs

Klappentext:

Nacht für Nacht sitzt ein alter Mann in einer Bar in Oran und erzählt. Seine Geschichte und die seines Bruders Moussa, jenes Arabers, der 1942 von einem gewissen Meursault, den angeblich die Sonne blendete, am Strand von Algier erschossen wurde. Der weltberühmte Roman Der Fremde von Albert Camus erzählt, wie es dazu kam und davon, wie Meursault der Prozess gemacht und er am Ende nicht so sehr für den Mord, den er begangen hat, verurteilt wird, sondern für die Emotionslosigkeit, die er bei der Tat und auch später immer wieder zur Schau stellt. Das Opfer, der Araber, bleibt dabei stets namenlos. Indem er nun – 70 Jahre später – die Geschichte seines Bruders bis zu dessen gewaltsamem Tod erzählt, gibt der alte Mann dem Araber seinen Namen zurück und damit eine Identität und eine Geschichte. Und er macht seinem Ärger Luft, seiner Trauer, der Wut und der Frustration über sein eigenes Leben im Schatten dieses Todes. Geschickt verzahnt Kamel Daoud in seinem Erstlingsroman die Geschichte der beiden Brüder mit der Geschichte Algeriens und mit dem Roman von Camus. Kraftvoll und poetisch zugleich erzählt Daoud von diesem Brüderpaar, ihrem Leben, ihrem Land, ihrer Liebe. Entstanden ist ein grosser Roman darüber, wie die Vergangenheit unsere Gegenwart prägt und über die ungebrochene Kraft der Literatur, eine tiefere Erkenntnis, eine verborgene Wahrheit ans Licht zu bringen.

Über die Autorin / über den Autor:

Kamel Daoud, Jahrgang 1970, im algerischen Mostaganem geboren, ist Journalist beim "Quotidien d'Oran", für den er seit 12 Jahren eine der meistgelesenen politischen Kolumnen in Algerien schreibt. Er lebt in Oran. Kamel Daoud hat bereits einen Band mit Erzählungen veröffentlicht. Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung ist sein erster Roman, er wird in 28 Sprachen übersetzt.

Preis: CHF 14.50
Sprache: Deutsch (aus dem Französischen von Claus Josten)
Art: Taschenbuch
Erschienen: 2017 (2013)
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-05060-8
Masse: 200 S.

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