Dominique Manotti

Marseille.73

Wer sich für die postkolonialen Jahre Frankreichs interessiert und über die Stimmungslage der 60er und 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts in diesem Land etwas erfahren möchte, sollte diesen Kriminalroman lesen. Die mit vielen Preisen geehrte Autorin ist Historikerin und war in jenen Jahren eine Militantin links politisierender Gruppierungen. Der Roman spielt in Marseille. Es ist das Jahr 1973. Damals ereigneten sich in der südlichen Hafenstadt viele Angriffe, auch tödliche, auf Nordafrikaner, hauptsächlich auf Algerier. Von fünfzehn Morden in Marseille wurden damals nur zwei aufgeklärt. Dies sind historische Fakten.

Der Roman über den Mord am sechzehnjährigen Malek, der eines Abends vor einem von Nordafrikanern frequentierten Café grundlos abgeknallt wird, ist reine Fiktion, ist Manottis literarische Verarbeitung jener vielen rassistischen Vorfälle. Der Text entstand sicher auch aus dem Willen, die zahllosen polizeilichen und richterlichen Versäumnisse jener Jahre ans Licht zu holen. In der Geschichte behindern viele Akteure den Prozess der Aufklärung der Bluttat und die Überführung des Mörders. Immerhin erfahren am Ende die Opfer – die Familie Khider bestehend aus Vater und nun nur noch zwei Söhnen – eine gewisse Gerechtigkeit durch die Tatsache, dass der Mörder des jüngsten Sohnes entlarvt wird. Zur Verantwortung gezogen und vor Gericht gestellt wird er jedoch nicht, weil interne Kräfte im Polizeiapparat dies verhindern. Wieder einmal werden die polizeilichen und gerichtlichen Institutionen in Marseille verschont. Lügen und Drohungen, Täuschungen und Zerwürfnisse werden zwar aufgedeckt, aber Konsequenzen werden keine gezogen. 

Marseille.73 ist ein fesselnder Krimi vor politischem Hintergrund. Manottis Sprache ist schnörkellos in der Schilderung der Ereignisse. Wie in einem klassischen Western unterscheidet man sehr bald den Guten vom Bösen. Manottis Stil ist wirksam und erbarmungslos; schnell liebt oder hasst man eine Figur. Zu den positiven Helden zählen zum Beispiel der aus Paris stammende Hauptkommissar Daquin und seine zwei Untergebenen: Grimbert kommt aus Malta und lebt seit 15 Jahren in Marseille. Er kennt das Temperament der Kollegen aus den verschiedenen Polizeieinheiten. Delmas ist neu in der Stadt und möchte sich schnell einleben. Ebenfalls auf Seiten der Opfer steht der junge Rechtsanwalt Berger. Er berät die Familie Khider bei Rechtsfragen im Zusammenhang mit dem Tod des jüngsten Sohnes und unterstützt sie bei der Eingabe der Anzeige. Schlussendlich engagieren sich der Tunesier Béchir und Marilou innerhalb ihrer politischen Organisationen für die Interessen der Nordafrikaner. Auf der Gegenseite agiert Pereira, der Gründer einer rechten Bürgerbewegung und Besitzer einer Bar, in der Personen aus dem kriminellen Milieu aber auch aus Polizei und Justiz mit rassistischer Gesinnung verkehren. Sie behindern das Trio Daquin-Grimbert-Delmas in der Suche nach dem Mörder. Unter den Akteuren befinden sich nicht wenige Pieds Noirs, also Franzosen, die bis zur Unabhängigkeit Algeriens im Jahre 1962 das koloniale Territorium als ihre Heimat betrachteten. Nun leben sie frustriert in  Frankreich und hegen Rachegefühle auf jene, die sie für ihr Unglück verantwortlich machen: die eigene französische Regierung und jeden Algerier, der ihnen über den Weg läuft.

Ich habe das Buch mit zunehmender Begeisterung gelesen. Anfänglich musste ich mich an den trockenen Stil der Autorin gewöhnen. Tagebuchartig folgt ein Ereignis aufs andere, die vielen Figuren werden knapp vorgestellt und erhalten erst durch ihre Handlungen klare Konturen. Die Stadt Marseille ist allgegenwärtig: die verschiedenen Cafés und Bars für den Aperitif, die Fabrikanlagen der Arbeiter, die Wohnungen der Nordafrikaner, die Sportzentren für die harten Burschen, die zu Trainingslagern umgebauten Hallen und Garagen, das Zentralgebäude der Polizei, wo alle Fäden zusammenlaufen, wo man alles weiss, aber nichts ans Tageslicht lässt. Mir erschien eine Welt, die ich vergessen hatte: ein europäisches Land, das Frankreich der Aufklärung, das seine koloniale Vergangenheit nie wirklich aufgearbeitet hat. Gebannt blätterte ich von einer Seite zur anderen: ein Text gegen das Vergessen. Angela Willimann

Klappentext:

Wir erleben Commissaire Daquin aus Paris beim zweiten grossen Fall seiner Laufbahn, bereits jetzt ein unbestechlicher Bulle mit Reibfläche und ausgeprägtem Sinn für Unrechtsverhältnisse. Die blühen in Marseille, zumal die verschiedenen Instanzen der Polizei einen Kleinkrieg um die Deutungshoheit über Recht und Gesetz führen. Von der Polizeizentrale L'Évêché bis zu den Richtern ist die Marseiller Exekutive durchsetzt mit Meistern der Mauschelei. Und in der Gesellschaft, die ihnen vorschwebt, ist für bestimmte Leute kein Platz vorgesehen. Wie weit werden sie gehen, wenn die Lage eskaliert?

1973 erschütterte eine rassistische Mordserie ganz Frankreich mit Marseille als Epizentrum von Fremdenhass, Klüngel und rassistischem Terrorismus: Das ist der historische Kern, um den Dominique Manotti ihren rasanten Roman arrangiert hat. Seine Aktualität in diesen Tagen ist beklemmend.

Über die Autorin / über den Autor:

Dominique Manotti ist Historikerin mit Schwerpunkt Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit. Die emeritierte Dozentin war viele Jahre als Gewerkschafterin in der CFDT aktiv und leitete ihre Pariser Sektion. Frustriert von der politischen Perspektivlosigkeit der Mitterrand-Ära begann sie mit fünfzig, Noir-Romane zu schreiben. Inspiriert durch jahrelanges Engagement in sozialen Kämpfen, durch politische Leidenschaft und präzise Kenntnis der Wirtschaftsgeschichte fand Manotti unmittelbar zu ihrem eigenen auffälligen Stil: scharf recherchierte Fakten, schlaglichtartig verknappt, erzählt mit der coolen Eleganz des Noir. Sie erhielt zahlreiche Literaturpreise (u.a. den Duncan Lawrie International Dagger, den Deutschen Krimipreis, den Prix Mystère de la Critique, die Trophée 813 und den Grand Prix du Roman Noir) und lebt in Paris.

Iris Konopik, Doktorin der Romanistik und Angewandten Sprachwissenschaft, seit 1994 Lektorin bei Ariadne, begleitet und dolmetscht Dominique Manotti auf Lesetouren und übersetzt ihre Romane.

Preis: CHF 21.90
Sprache: Deutsch (aus dem Französischen von Iris Konopik)
Art: Taschenbuch
Erschienen: 2022 (2020)
Verlag: Ariadne
ISBN: 978-3-86754-263-0
Masse: 397 S.

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