Francesca Melandri

Sangue giusto

Als mir Charlotte das Buch von der mir bis dahin unbekannten Autorin als "die" Sommerlektüre empfohlen hat, konnte ich nicht wissen, auf welch spannendes Lektüreabenteuer ich mich einlassen würde. Einmal mit dem Lesen begonnen habe ich Zeit und Raum vergessen, so sehr hat mich dieser sorgfältig recherchierte und vielschichtig gewobene Text in seinen Bann gezogen.

Die Geschichte nimmt ihren Ausgangspunkt im Jahr 2010. Ilaria, eine in Rom lebende und als Lehrerin arbeitende Mittdreissigerin, wird beim Heimkommen von ihrer Nachbarin mit dem Satz "da oben wartet ein schwarzer Mann auf dich" begrüsst. Es stellt sich heraus, dass der "schwarze Mann" aus Äthiopien kommt und laut seinem Reisepass Shimeta Ietmgeta Attilioprofeti heisst und damit den gleichen Familiennamen wie Ilaria hat. Er erklärt der irritierten Ilaria, "wenn Attilio Profeti dein Vater ist, dann bist du meine Tante", um hinzuzufügen, "Attilio Profeti weiss, wer ich bin. Frag ihn. Er ist mein Grossvater." Damit wird eine höchst komplexe Familiengeschichte, die gleichzeitig ein politisch-historisches Zeitdokument des italienischen Faschismus und Kolonialismus ist, eingeleitet.

Es ist schwierig, diesen komplexen Text, der geografisch zwischen Italien, Libyen und Äthiopien pendelt, historisch einen Bogen von der aktuellen Flüchtlingsdebatte zum Rassismus der Kolonialzeit spannt und von zeitlichen Rück- und Überblendungen lebt, in seiner Vielschichtigkeit und Dynamik darzustellen. Ich nehme Ilaria als Ausgangspunkt, denn obwohl es um die Geschichte von Attilio Profeti geht, ist sie für mich die Protagonistin dieses Romans. Sie ist es, die in detektivischer Kleinarbeit den verdrängten Reichtum ihrer Familiengeschichte enthüllt. Die Spannung entsteht durch die Art des Erzählens. Die Enthüllungsmomente kommen irgendwie unaufgeregt daher, entfalten aber eine unheimliche Wirkung. Als etwa Attilio Profeti seiner damals vierzehnjährigen Tochter erzählt, dass sie nicht zwei, sondern drei Brüder habe, passiert das wie nebenbei. Wenn die Leserin/der Leser nun annehmen, dass dieses Geständnis mit einem emotionalen Ausbruch einhergeht, dann irren sie. Der Vater enthüllt sein Geheimnis nur aus einem Grund: die Tochter möge doch bitte der Mutter davon erzählen. Und doch empfindet man Attilio Profeti nicht als böse oder berechnend, sondern schlicht als empathie- und verantwortungslos; als unheimlich selbstzentriert.

Auch die Mutter von Ilaria wird als höchst ambivalente Figur gezeichnet. Sie lässt sich nach dem Bekanntwerden von Profetis geheimer Zweitfamilie scheiden, hat aber weiterhin ein äusserst ambivalentes Verhältnis zu ihrem geschiedenen Mann. Sie hütet auch nach der Scheidung ein Geheimnis von Attilio Profeti, von dem sie bereits sehr früh in der Ehe gewusst hat. Als Ilaria beginnt über ihren Vater Fragen zu stellen, übergibt ihr die Mutter eine alte Kaffeedose, in der sie Briefe von Shimeta Ietmgeta Attilioprofeti an seinen Vater über all die Jahre aufbewahrt hat. Sie hat, so könnte man sagen, die Existenz der afrikanischen Familie ihres Mannes vor sich selbst und ihren Kindern versteckt. Darin zeigt sich die unglaubliche Ambivalenz der Mutter: so weiss sie von der Existenz der anderen Familie ihres Mannes, verweigert aber deren Kenntnisnahme. Sie stellt weder ihren Mann zur Rede, noch erzählt sie den Kindern von der Existenz eines weiteren Halbbruders. Sie tut das Gegenteil. Sie versteckt diese fremde Familie in einer Blechschachtel im hintersten Winkel ihres Kleiderschranks. Die Mutter weiss offensichtlich von der beunruhigenden Kraft, die vom Verdrängten ausgehen kann, darum muss sie dieses Familiengeheimnis doppelt wegschliessen.

Wieder ist es Ilaria, die dieses versteckte und verdrängte Wissen an das Tageslicht holt. In einer akribisch durchgeführten Recherche legt sie die Involviertheit ihres Vaters in den Kolonialkrieg in Äthiopien frei. Besonders eindrucksvoll sind hier jene Passagen, in denen Ilaria der Frage nachgeht, ob ihr Vater in Gräueltaten während dieses Krieges verstrickt war. Obwohl es an ihre persönliche Grenze geht, zögert Ilaria nicht, die "Wahrheit" über ein verstörendes Foto aus besagter Blechschachtel herauszufinden. Da sie ihren 95-jährigen, an Demenz erkrankten Vater nicht mehr befragen kann, wird diese Suche zu einer wahren Herausforderung. Auch wenn am Ende der Recherche die gefundene Wahrheit für Ilaria nicht einfach ist, gerät ihre Zuneigung zum Vater niemals ins Wanken.

Das sorgsam erzählte Freilegen des biografisch Verdrängten, das zwischendurch an die Arbeit einer Psychoanalytikerin erinnert, macht diesen Text so aufregend und spannend. Die Autorin verweigert sich sowohl der klassischen Erzähltradition als auch einer deutenden Haltung, sondern beschreibt auf eindrucksvolle Weise, wie im Mikrokosmos von Alltagshandlungen totalitäre und rassistische Strukturen hervorgebracht werden. Das macht diesen Text brandaktuell. Doris Gödl

Klappentext:

Agosto 2010 – mentre Roma si prepara alla visita di Stato del colonnello Gheddafi, un ragazzo dalla pelle nera aspetta davanti casa Ilaria Profeti. È arrivato dall'Etiopia attraverso Libia, Lampedusa, le commissioni per ottenere lo status di rifugiato. "Tu sei mia zia", le dice: il padre d'Ilaria sarebbe suo nonno. Ilaria sa che Attilio Profeti, carismatico e bugiardo, di segreti ne ha avuti tanti; ma di Abeba, la donna conosciuta durante l’occupazione fascista d'Etiopia, non sapeva nulla. Le tracce di quel lontano amore le riveleranno orrori coloniali mai raccontati, le bugie del dopoguerra, fino al presente delle grandi migrazioni. E un legame più grande: quello tra i segreti della sua famiglia e la storia di un Paese che rimuove i ricordi senza affrontarli.

Über die Autorin / über den Autor:

Francesca Melandri (Roma, 1964), dopo molte sceneggiature per cinema e tv, ha esordito nel 2010 nella narrativa con Eva dorme. Nel 2012 ha pubblicato per Rizzoli Più alto del mare, Premio Selezione Campiello. I suoi romanzi sono stati premiati in Italia e all'estero e tradotti in molte lingue. Sangue giusto, Premio Sila '49 e selezionato al Premio Strega, è stato mesi nella classifica bestseller dello Spiegel che l'ha nominato romanzo internazionale dell'anno.

Preis: CHF 21.00
Sprache: Italienisch
Art: Taschenbuch
Erschienen: 2019 (2017)
Verlag: Rizzoli
ISBN: 978-88-17-10875-1
Masse: 527 S.

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