Anne Weber

Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen

Ein hervorragender Roman, der auf vielen Ebenen spielt und unterschiedliche Seiten in den Lesenden anzuklingen vermag. Bannmeilen ist, wie im Untertitel steht, ein Roman in Streifzügen. Die beiden Protagonist:innen, die Ich-Erzählerin, die unverkennbar Züge der Autorin trägt, wie auch Thierry, die zweite Kunstfigur, die auch eine Entsprechung im realen Leben hat, durchqueren stundenlang und über Hunderte von Kilometern während Monaten das 93. Arrondissement. Dieses liegt nördlich der Périphérique, einer achtspurigen Ringstrasse, welche Paris von den umliegenden Vorstädten trennt. Dank dieses Romans lernen wir eine Gegend ganz anders kennen, als wir sie aus den News oder dem Kino kennen, die dieses Arrondissement stets nur als Unruheherd mit einer gewaltbereiten und in heruntergekommenen Wohnblocks lebenden Menschen zeichnen.

Anne Weber bzw. die Ich-Erzählerin erkundet langsam eine ihr unbekannte Gegend. Thierry, der sich auskennt, da er dort aufgewachsen ist, ermöglicht ihr, sich relativ entspannt in einer doch oft sehr einsamen Gegend zu bewegen. Von Thierry erfahren wir nicht allzu viel, das ist auch der Tatsache geschuldet, dass der reale Thierry nicht wirklich im Roman in Erscheinung treten wollte. So ist Bannmeilen vor allem von der Sicht der Ich-Erzählerin geprägt, auch wenn es immer wieder ironische heitere Dialoge zwischen den beiden gibt. 

Anne Weber ist eine begnadete Beobachterin, die das Gesehene und Gehörte in eine schöne und anregende literarische Form bringt. Im Gegensatz zur klassischen Reportage, die an einen Ort geht, um etwas zu dokumentieren, von dem sie oder er weiss, dass es dort stattfindet, liess die Ich-Erzählerin sich treiben und erst, wenn sie auf etwas gestossen war, das weiter verfolgt werden konnte, recherchierte sie und ging danach bewusst an Orte, die sie aufgrund der Recherche entdeckt hatte. Diese Vorgehensweise wird begleitet von einer wiederkehrenden Bestürzung der Ich-Erzählerin über sich selbst, über ihre fehlende Neugierde und Unkenntnis. Sie selber lebt nahe der Périphérique, bis zu diesem Zeitpunkt war es ihr aber noch nie in den Sinn gekommen, sich für die Menschen auf der anderen Seite der Périphérique zu interessieren. Diese Unbedarftheit macht ihr zu schaffen. Ihr Reflektieren über diese Ahnungslosigkeit als Konsequenz von fehlendem Interesse ist sehr entlarvend. Ich empfehle diesen Roman sehr. ap

Klappentext:

Wo die Stadt aufhört und die Vorstadt anfängt, ist in Paris klar markiert durch den Périphérique, den zu überschreiten Anne Webers Erzählerin bisher kaum in den Sinn gekommen ist. Denn was gibt es dort, in den verruchten Banlieues, ausser einem Geflecht aus Schienen, Schnellstrassen und Autobahnen, zwischen denen Lagerhallen, gewaltige Supermärkte und Baustellen und Millionen von Menschen eingeklemmt sind? Ausser der so notorischen Not, Gewalt und Armut? Als ihr alter Freund Thierry ihr jedoch vorschlägt, ihn für einen Film durch die Vorstädte des Départments Seine-Saint-Denis zu begleiten, die vor den Olympischen Spielen 2024 einem tiefgreifenden Wandel unterzogen werden, muss sie sich eingestehen, dass sie für die nächste Nähe jahrzehntelang blind gewesen ist. Da sind zum Beispiel der von Schrotthalden umgebene muslimische Friedhof von Bobigny, auf dem ein algerischer Olympiasieger der 1920er-Jahre begraben liegt; die beiden kreisrunden Sozialwohnungsbauten von Noisy-le-Grand, die einander wie gigantische Camemberts gegenüberstehen; und tausend andere von Kolonialismus und Leid, von Hoffnung und Fortschritt erzählende Orte. Und auch Thierry selbst entpuppt sich mit der Zeit als Teil dieser widersprüchlichen, ihrem Blick bislang verborgenen Welt.

Mit leisem Witz und grosser Beobachtungsgabe öffnet sich Anne Weber in Bannmeilen dem Unvertrauten und Anderen mitten unter uns und entwirft damit nicht nur das Bild einer komplexen Freundschaft, sondern zugleich die Geschichte einer vielschichtigen Gesellschaft in der so noch nicht gesehenen Vorstadt der Liebenden.

Über die Autorin / über den Autor:

Anne Weber, 1964 in Offenbach geboren, lebt seit 1983 als freie Autorin und Übersetzerin in Paris. Sie hat sowohl aus dem Deutschen ins Französische übersetzt (u.a. Sibylle Lewitscharoff, Wilhelm Genazino) als auch umgekehrt (Pierre Michon, Marguerite Duras). Ihre eigenen Bücher schreibt sie sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Ihre Werke wurden u.a. mit dem Heimito von Doderer-Literaturpreis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis, dem Johann-Heinrich-Voss-Preis und dem Solothurner Literaturpreis 2024 ausgezeichnet. Für ihr Buch Annette, ein Heldinnenepos wurde Anne Weber mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet.

Preis: CHF 34.50
Sprache: Deutsch
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2024
Verlag: Matthes & Seitz
ISBN: 978-3-7518-0955-9
Masse: 301 S.

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