Alle Gastbeiträge

Beiträge zu Flucht und Migration

-------------------------------------------------------------

 «Listen Loulou ...»

Als meine Mutter in einem Asylzentrum in der Innerschweiz arbeitete, war da dieser Koch. Ich war etwa neun Jahre alt und ging nach der Schule manchmal ins Zentrum und wartete, bis meine Mutter Feierabend hatte. Der Koch, er reichte mir jeweils einen Teller mit Essen. Essen, das für mich nach Heimat schmeckte. Der Koch mit den Narben am Rücken. Ich bin traurig, seinen Namen erinnere ich nicht mehr. Aber ich erinnere mich an die Trauer um ihn. Er wurde zurückgeschickt. In die Türkei. Ich erinnere mich auch nicht mehr an den Moment, als meine Mutter mir erzählte, dass er nicht mehr lebe. Dass er umgebracht worden sei. Doch ich erinnere mich: ich erinnere mich an einen Mann, dessen Name ich nicht mehr weiss und der mir einen Teller Essen reichte und dessen Geschmack ich nie mehr vergessen werde. Ein bisschen Kreuzkümmel, aber nicht zu viel.

In meiner Erinnerung stehe ich zwischen zwei Bäumen, die Handflächen an der Rinde. Ich blicke hoch in ein Gesicht, das verblasst vor dem Licht dahinter. Es scheint mir, als würde ich geblendet, als hätte ich halbblind in dieses Licht geblinzelt. Es ergibt keinen Sinn. Deutlich ist in meiner Erinnerung einzig ihre wohlmeinende Bemerkung, die mich hinwegwirbelt als wäre ich eine Daunenfeder – winzig und klein und leicht, immer in der Schwebe. Das überblendete Gesicht lächelt zu mir hinunter: «Du chasch dänn guet Dütsch.» Ich sehe die Rinde der Bäume ist braun und dick und rissig. Ich reisse daran. Ich weiss nicht mehr, was ich geantwortet habe; ob ich geantwortet habe. Ich glaube, ich kleinmädchenlächelte und schwieg hinauf zu diesem konturlosen Gesicht. Ich weiss noch, wie sich ein Riss auftat. Ein Riss zwischen dem Dasein und dem Vondortkommen. Ein Riss zwischen Selbstverständlichkeit und Infragegestelltwerden. Ein Riss, in dem ich begriff, dass nicht sie falsch lag, sondern ich. Ein Riss, in dem ein Warum sich breitmachte. Ein Riss und ein Warum mitten durch mich hindurch. Das Warum tat weh. In diesem Augenblick wusste ich aber auch um etwas, das ich hatte. Nicht in Einzelheiten, aber ich wusste, selbst wenn etwas an mir in Frage gestellt wird, so kann ich mein Recht auf mein Hier-Sein behaupten, auch wenn es ein Zugestehen des Vondort-Kommens bedeutete. Schliesslich hatte ich diesen roten Pass und zwar seit Geburt. Und meine Eltern ebenfalls seit Geburt. Und sogar der Vater der Mutter und die Mutter des Vaters hatten diesen roten Pass, von Geburt an. Eine rote Ankerkette, die dich im Hafen der Sicherheit vertäut.

Vielleicht im gleichen Jahr, vielleicht früher, vielleicht später, träumte ich diesen Traum: Acht oder neun Jahre alt fuhr ich mit meiner Mutter und einer ihrer Freundinnen in einem kleinen Lastwagen, wohin? Ich weiss es nicht. Zwischen Führerkabine und der Ladefläche war ein dicker Vorhang, dahinter wusste ich, waren Menschen, viele Kinder. Und wir waren auf der Flucht. Wovor, darüber liess mich mein Traum im Unklaren. Irgendwann wird klar, meine Mutter und ich müssen nach hinten zu den anderen auf die Ladefläche. Ich frage: «warum?» Unsere Haut ist zu dunkel, unsere Augen zu braun. Wir könnten Verdacht erregen, angehalten werden und damit die anderen gefährden. Vielleicht ging der Traum weiter. Daran erinnere ich mich nicht mehr. Ich erinnere mich nur noch an das «zu dunkel».
Meine kindliche Selbstbezogenheit bereitete mir Albträume. «You had enough sun», sagte meine Grossmutter. «You're getting too dark, she said.» But my skin was just as brown as hers. «Listen Loulou – the old days in Persia …», so jeweils beginnen die Erzählungen meiner Grossmutter. Weit über 90 ist sie heute, sie, die auf vier Kontinenten gelebt hat, mehr als einmal geflüchtet ist, mehr als einmal migriert ist – aus «privaten» Gründen oder aus solchen, die sich leichter mit einer westlichen Weltgeschichte verknüpfen lassen.
«The old days in Persia …» Ein Land, zu dem ich keine Beziehung habe, ausser ein bisschen Sehnsucht nach etwas, das vielleicht nie existierte. «So schön sei es, dieses Land», «so interessant» sagen die Leute, «ob ich denn nicht mal …?» Nein. Ich wollte nicht und jetzt kann ich nicht. Und diese Sprache! Meine Grossmutter hat mit ihren Kindern nie Farsi gesprochen. Sie sprach Englisch mit ihnen, eine Sprache, die sie erst als junge Frau in London gelernt hatte, nach ihrer ersten «privaten» Flucht aus Iran. Eine ehemalige Arbeitskollegin erzählt mir, wie bereichernd und wichtig es für sie gewesen sei, Mandarin zu lernen. Die Sprache der Eltern. Was gälte nun für mich? Farsi? Rumantsch? Cambridge English? Tschechisch gar? Eine andere Kollegin sagt: «Englisch, die Sprache der Kolonialherren.» «The old days in Persia …» Dies also soll nun die Sprache der Kolonialherren sein? Und der Erzählauftakt selbst? 1001 Nacht? «Selbstorientalisierung»? Dieser Moment zwischen meiner Grossmutter und mir, wenn sie die immer gleichen Geschichten erzählt, auf die ich noch immer aufgeregt warte, weil ich dann weiss, dass alles gut ist. Dieser Moment. Ich weigere mich, als Enkeltochter diesen Moment zwischen ihr und mir erdrücken zu lassen von gewaltvoller imperialer und kolonialer Weltgeschichte. Auch als Historikerin weigere ich mich, darin nur jene Geschichte zu lesen.

Es gibt keine Muttersprache in dieser Familie, es gibt keine gemeinsame Sprache und doch gibt es eine Sprache. Dieses Familienenglisch gemischt mit Schweizerdeutsch, unsere Gesten, unsere Mimik. Wären die Missverständnisse und Konflikte kleiner, gäbe es eine Muttersprache? So jedenfalls haben wir eine gute Ausrede. Die Schweiz ist nicht Käse und Schokolade und das Matterhorn. Die Schweiz ist auch nicht Finanzplatz, Profiteur und hat das Rote Kreuz erfunden. Die Schweiz ist … Die Schweiz ist, einen Bürgerort haben. Das Schweizerischste, was es überhaupt gibt. Bürgerort, jener Ort, an dem eine ihre Heimatberechtigung hat. Jener Ort, der dir in der Schweiz deinen Geburtsschein ausstellt. Ich bin berechtigt, in Samedan Heimat zu haben. Die Gemeinde Samedan hat bestätigt, dass ich am soundsovielten in Zürich geboren bin. Sehr selten bin ich da, an diesem meinem Heimatort. Während eines dieser Besuche steige ich auf den Muottas Muragl, 2453 m über Meer, ich sitze auf einer Bank und lese Desorientale von Négar Djavadi. Ich lese die mir vertraute, so vertraute nachgeschobene Silbe «Dschan» oder «Joon». Pete-Joon, so hat meine Grossmutter meinen Grossvater immer genannt, Pete-Liebling. Pete-Joon und Parivash hatten sich in London kennengelernt, auf einem Bahai-Meeting. Und ich schaue herunter nach Samedan, dort, wo ich an der Hand meiner anderen Grossmutter Anna mit den kurzen Beinchen einer Vierjährigen durchs Dorf getrottet bin – ein Dorf, das nach der Trennung meiner Eltern nur noch eine Erinnerung sein wird für mich. Ich denke daran, dass meine Mutter und eine ihrer Schwestern an den beiden Enden einer der wichtigsten Ölpipelines in Iran geboren worden sind. In Masǧed-e Soleymān und Abadan. Am einen Ende soll 1908 das erste Mal Erdöl aus dem Mittleren und Nahen Osten gefördert worden sein. Am anderen Ende, in Abadan, wurde 1918 eine Ölraffinerie in Betrieb genommen. Diese sei wohl, so die Encyclopædia Britannica, Ende der 1970er-Jahre die grösste Ölraffinerie der Welt gewesen. Ich denke daran, wie eine schwarze Kugel den Vater meines Vaters nie wirklich losgelassen hat. Wäre die Mehrheit der Kugeln schwarz gewesen, wäre mein Bürgerort heute wohl nicht Samedan. Tscheche sei er – nicht Slowake, habe mein Urgrossvater jeweils betont. Mhm. Jener Urgrossvater, der als junger Mann in die Schweiz migrierte und wegen meiner Urgrossmutter auch hierblieb. Beide wurden sie staatenlos durch die Zerschlagung der Tschecho-Slowakischen Republik. Erst 1950 erhielten sie wieder Papiere – Schweizer Papiere. Die Einbürgerung – so habe mein Grossvater erzählt – sei durch eine Gemeindeabstimmung erfolgt. Weisse und schwarze Kugeln. Weiss für JA, schwarz für NEIN. Bei der Einbürgerung meines Grossvaters väterlicherseits: eine einzige schwarze Kugel. Vergessen konnte er sie offenbar nie. Und ich denke an den Vater meiner Mutter, ein Schweizer mit kolonialer Geschichte, geboren in Bombay, heute Mumbay. Mein Grossvater, dessen Vorfahr von 1874 bis 1879 Ständerat war – für eben jenen Kanton, wo per Zufall auch der Vater meines Vaters als Schweizer anerkannt wurde. Und als ich einige Tage später dies alles aufschreibe, erinnere ich mich daran, wie mein bester Freund im Gymnasium lange Zeit dachte, Samedan liege in Iran. Ich habe sehr gelacht, als das rauskam. Aber Thomy, vielleicht hattest du recht. Als ich einige Stunden später in Samedan stehe, mitten im Dorf, rufe ich meinen Vater an: "Ich bin hier." Und am anderen Ende höre ich die bündnerische Einfärbung in seinem Dialekt plötzlich wieder stärker. "Wo bist du", fragt er mich. Ich sehe mich kurz um und stelle überrascht fest: "Ich stehe vor dem Coiffeur Lada." Coiffeur Lada since 1928 steht da. Wir lachen beide. Es war das Geschäft seiner Grosseltern, meiner Urgrosseltern. Emilia & Ladislav. Samedan – Iran – Altdorf – Zürich. Berge, Dörfer, Grossstädte und Möchtegerngrossstädte, Mythen und Zuschreibungen und Geschichtsklitterung, und immer wieder diese eine Frage: Woher kommst du? Nein, woher kommst du wirklich? Woher kommst du ursprünglich? Woher kommt die Farbe deiner Augen und deiner Haare, woher kommt deine Hautfarbe, woher kommen diese Gesichtszüge, woher kommt dieses Feuer, diese Power aus dem Süden, diese Rasse in den Augen? Mein Vater meint zu mir: Sag doch einfach, dass du aus dem Engadin bist. Die sehen doch auch oft so aus, diese braunen Augen und Haare und die Haut. Ich bin doch aus dem Engadin, denke ich mir. Und ich erinnere mich an einen Sommer in Spanien. Mein Vater und ich sind auf dem Wochenmarkt. Wir sind bei meinen Grosseltern in den Ferien. Die Eltern meiner Mutter, die damals erst kürzlich aus der Schweiz nach Spanien migrierten. Einmal mehr. Vor uns eine deutsche Familie: "Helmut, Achtung dein Geldbeutel", sagt die Frau und schaut zu uns nach hinten. Mein Vater und ich lächeln – diese doofen Deutschen, wenn die wüssten, dass wir alles sehr genau verstanden haben. Mein Herz ist kurz stehen geblieben.  Mein Vater spricht immer von denjenigen, denen es wirklich schlecht gehe. Menschen, die aus ökonomischen Gründen fliehen, die fliehen wegen Kriegen und Verfolgung. Mein Vater kennt seine Privilegien sehr genau. "Helmut, Achtung dein Geldbeutel" hinterlässt dennoch in meinem damals elfjährigen Nochkindkörper einen weiteren kleinen Giftpfeil. Eine surreale Form von Hilfslosigkeit. Eine spezielle Art von Verwirrung. Ich denke an den Autor Sascha Stanišić und seinen Vorschlag, «heimaten» als Verb einzuführen – «heimaten», etwas das wir gemeinsam tun können, nicht ein fixer Ort, sondern eine Tätigkeit. Ich denke an die feministische Theoretikerin Christina Thürmer-Rohr, die den Heimatbegriff loswerden wollte und sich wünschte, wir würden uns alle als Heimatlose betrachten, als Vagabundinnen. Und ich denke an den Sammelband «Eure Heimat ist unser Albtraum», herausgegeben von den Autor_innen und Publizist_innen Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah. Das Unbehagen mit dem Heimatbegriff – ich teile es. Doch hier, hoch oben über der Oberengadiner Seenplatte unter dem Spiel der Wolken und der Sonne, hier oben denke ich: Ich bin keine Vagabundin.

In der Nähe der Bahamas, in der Sargassosee, erblicken die Aale das Licht der Welt. Alle sind von dort. Frag einen Aal, woher er kommt und sie werden dir alle die gleiche Antwort geben können.

Für meine Mutter Mona, 22.4.1956, * Masǧed-e Soleymān, Iran, †16.4.2023, Ciudad Quesada, Spanien und für meine Grossmutter Parivash, 7.4.1929, * Teheran, Iran, † 15.8.2023, Ciudad Quesada, Spanien.

-------------------------------------------------------------


EnkelinUndGrossmutterMuetterlicherseits_Spanien_ca1992

Loulou mit Grossmutter Parivash in Spanien, ca. 1992 © Privat