Goran Vojnović

Unter dem Feigenbaum

Welchen Einfluss kann ein Staat oder auseinanderbrechende Staaten auf das private Glücke einer Person haben? Dieser Frage geht der slowenische Autor Goran Vojnović in seinem Roman Unter dem Feigenbaum nach. Der Roman beginnt mit dem Tod von Jadrans Grossvater in einem abgelegenen Haus im zu Kroatien gehörenden Istrien. Erinnerungen an den Grossvater, Mutmassungen über seinen Tod und die Einführung der verschiedenen Familienmitglieder stecken den Rahmen des Romans ab. Da ist Jadran und seine Frau Anja, die gerade in einer tiefen Beziehungskrise stecken, mit ihrem Sohn Marko; das ist Jadrans Mutter Vesna, und sein abhandengekommener Vater Safet; da ist Maja, die Schwester von Vesna, und ihr sehr slowenischer Ehemann Dane; und da sind Aleksandar und Jana, Jadrans Grosseltern. Aleksandars Mutter, jüdischer Abstammung, ist aus Serbien nach Slowenien geflüchtet und hat ihre Geschichte, ihren Namen und ihre Abstammung aus Angst vor den deutschen Besatzern geändert und geheim gehalten. Safet ist aus Bosnien nach Slowenien gekommen. Als sich Slowenien aus der Föderation gelöst hat, wurde eine hohe Zahl von nicht-slowenischstämmigen Einwohnern aus dem Einwohnerregister gestrichen und als AusländerInnen betrachtet. Safet ist nach Bosnien zurückgegangen und hat jegliche Beziehung zur Familie abgebrochen. So ist Jadran ohne Vater und mit vielen Geheimnissen aufgewachsen, im Schweigen und im Zorn. Erst im Laufe des Textes entfalten sich die Gewalt und die Schmerzen, die diese Familiengeschichte bei Jadran verursachten. Und wie sich diese Geschichte zwischen Jadran und Anja, sie selber Tochter einer politisch mächtigen slowenischen Familie, schiebt. Auf der Suche nach sich selber, nach seiner Identität, seiner Geschichte, aber auch nach Freiheit und Liebe, verhandelt Jadran seine Optionen bis zum Schluss. 

Mosaikartig entwickelt sich die ganze Geschichte der Familie, im Hin und Her zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Dabei beweist Vojnović eine tiefe Sensibilität und schafft es, eine sehr grosse Nähe zu den einzelnen Familienmitgliedern herzustellen. Ein eindrücklicher, lesenswerter Text, der dringlich aufzeigt, wie nicht nur direkte kriegerische Auseinandersetzungen, sondern auch "Kriege" um die "richtigen" Identitäten, tiefe Spuren in den ihnen zum Opfer fallenden Menschen hinterlassen. cn

Klappentext:

Über ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit Jadrans Grossvater nach Istrien kam und dort eine Familie gründete. Nun ist er tot, und auch Jadrans Vater hat nach Ausbruch des Bosnienkrieges die Familie verlassen. Mit dem Besuch im Haus des Grossvaters beginnt die Suche des jungen Mannes nach der eigenen Identität und führt ihn unweigerlich in die Wirren auf dem Balkan. Der Zerfall des Staates und dessen neue Grenzen haben auch die Familienbande zerschnitten. Einzig der Feigenbaum im Garten seines Grossvaters scheint alle Stürme unbeschadet überstanden zu haben.

Über die Autorin / über den Autor:

Goran Vojnović wurde 1980 in Ljubljana geboren. Er studierte Regie an der Theater- und Filmhochschule Ljubljana und gilt als enfant terrible und einer der talentiertesten Autoren seiner Generation. Sein Romanerstling Čefuri raus! hatte den Rücktritt des slowenischen Innenministers zur Folge. Er ist erfolgreicher Regisseur zahlreicher Filme. Seine Bücher sind in viele Sprachen übersetzt.

Preis: CHF 19.90
Sprache: Deutsch (aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2023 (2016)
Verlag: Folio
ISBN: 978-3-442-71922-8
Masse: 335 S.

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