Fatma Aydemir

Dschinns

Zu Beginn des Buches stirbt der Mittfünfziger Hüseyin. Und zwar in dem Moment, als er sich seinem Glück ganz nahe sieht: in einer neu eingerichteten, schönen Eigentumswohnung in Istanbul. Eine Stadt, in der er zwar nie gelebt hat, aber in der er früher einmal, ein paar Tage, glücklich war. Was ihm weder im Dorf im Osten der Türkei, noch in Deutschland gelungen ist. Aber dann stirbt er. Und seine Familie reist zur Beerdigung an. In der Folge sehen wir die Geschichte der Familie jeweils aus der Sicht eines der Familienmitglieder, das auch das Zusammentreffen in Istanbul und die Beerdigung beschreibt. Da ist Ümit, der halbwüchsige Jüngste der Familie, der statt in den Sportunterricht zu gehen, in psychologischer Behandlung ist, ohne dass seine Familie davon weiss. Und da ist Sevda, die älteste Schwester, die seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern hat. Mit ihren beiden kleinen Kindern lebt sie von ihrem Mann getrennt – entgegen dem Wunsch ihrer Mutter. Die quirlige Peri, die in Frankfurt studiert, hat sich eine souveräne Autonomie von der Familie erkämpft; nicht so Hakan, für den das Leben voller Hindernisse ist und der sich tagtäglich mit dem Alltagsrassismus in Deutschland und den Erwartungen seiner Eltern konfrontiert sieht. Und da ist natürlich Emine, die Ehefrau und Mutter, die irgendwo zwischen dem Dorf, aus dem sie stammt, und Deutschland verloren gegangen ist.

Diese verschiedenen Stimmen, die wirklich jeweils ganz eigene Stimmen haben, sprachlich, ryhthmisch, musikalisch, werfen jeweils ganz eigene Blicklichter auf die Vergangenheit und die Gegenwart der Familie Yilmaz. Jede und jeder von ihnen ist in seinen eigenen Erinnerungen und Verlusten gefangen, in ganz unterschiedlichen Beschränkungen und Begrenzungen. Alle haben eine eigene Vorstellung davon, wie das Glück aussehen müsste – und wo es zu finden wäre. So zeigen sich auch sehr viele verschiedene Facetten eines Lebens fern von der Heimat oder zwischen zwei Heimaten. Keine der Personen geht gleich damit um, sowohl die Eltern wie auch die Geschwister wählen ganz unterschiedliche Arten der Konfrontation oder Nichtkonfrontation. So gleicht diese Familie jeder anderen Familie in Deutschland auch. Doch mit der Härte der Arbeitsbedingungen, der Knappheit an Geld, der Isoliertheit in der Gesellschaft, der Ablehnung im Alltag wird der Umgang in der Familie schnell zum Verhängnis. Und wenn über so vieles geschwiegen wird wie in der Familie Yilmaz, dann steht für die einzelnen Familienmitglieder viel auf dem Spiel. Fatma Aydemir führt das sehr klar und eindrücklich vor Augen. cn

Klappentext:

Dreissig Jahre hat Hüseyin in Deutschland gearbeitet, nun erfüllt er sich endlich seinen Traum: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Nur um am Tag des Einzugs zu sterben.

Zur Beerdigung reist ihm seine Familie aus Deutschland nach: Seine älteste Tochter Sevda, die erfolgreich im Leben, aber weit enfernt von ihren Eltern und vom Glück ist. Sein Sohn Hakan, der sich wie auf einer wilden Flucht vor sich selbst durch jeden einzelnen Tag boxt. Seine Tochter Peri, die sich an der Universität mit allen Fasern in Theorien, Sex und Drogen wirft. Sein jüngster Sohn Ümit, der noch zu Hause wohnt und laut den Erwachsenen nicht in den verliebt sein darf, in den er verliebt ist. Und Hüseyins Frau Emine, deren so schmerzhafte wie zärtliche Erinnerungen zwischen der Türkei und Deutschland keine Grenzen kennen. Jede dieser unvergesslichen Figuren hat ihr eigenes Gepäck dabei: Geheimnisse, Wünsche, Wunden. Was die Mitglieder der Familie Yilmaz jedoch vereint, ist eine Frage: Wer war Hüseyın wirklich?

Dschinns spielt am Ende der neunziger Jahre – und in unserer Gegenwart, die ohne diese Geschichten nicht zu verstehen ist. In einer schwankenden, zerbrechlichen Welt füllt Fatma Aydemirs Roman lauter Leerstellen.

Über die Autorin / über den Autor:

Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren. Sie lebt in Berlin und ist Kolumnistin und Redakteurin bei der taz. Bei Hanser erschien 2017 ihr Debütroman Ellbogen, für den sie den Klaus-Michael-Kühne-Preis und den Franz-Hessel-Preis erhielt. 2019 war sie gemeinsam mit Hengameh Yaghoobifarah Herausgeberin der Anthologie Eure Heimat ist unser Albtraum. Dschinns wurde mit dem Robert-Gernhardt-Preis ausgezeichnet.

Preis: CHF 33.90
Sprache: Deutsch
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2022
Verlag: Hanser
ISBN: 978-3-446-26914-9
Masse: 368 S.

zurück