Colum McCann

Apeirogon

Wie kann man sich dem Israel-Palästina-Konflikt, der seit Jahrzehnten andauert und in seiner binären Opposition unauflösbar scheint, annähern? Der irische Autor Colum McCann macht das mit einem formal äusserst strengen Konzept. In 499 kurzen und kürzesten Abschnitten folgen die Lesenden in der ersten Hälfte des Buches, als roter Faden, Rami Elhanan auf seinem Motorrad von Jerusalem nach Bait Dschala; in der zweiten Hälfte geleitet der rote Faden die Lesenden gemeinsam mit Bassam Aramin auf seiner Autofahrt von Bait Dschala zurück nach Jericho – wiederum in der Form von 499 Abschnitten. In den beiden Kapiteln 500 erzählen die beiden Männer ihre Geschichten. Bassam, Palästinenser, hat seine Tochter Abir verloren, getötet von einem durch einen israelischen Grenzpolizisten abgefeuerten Gummigeschoss; Rami hat seine Tochter Smadar bei einem Selbstmordattentat von drei Palästinensern verloren. Das Kapitel 1001 bringt den Autoren ins Spiel, der an einem der vielen Treffen, das die beiden Männer, enge Freunde geworden, im Kloster Cremisan abhalten, teilgenommen hat. Die beiden Männer engagieren sich bei Combattants for Peace und im Parents' Circle. Sie reisen in der ganzen Welt umher, um von ihrer Geschichte zu erzählen, ihrem Verlust und der dringenden Notwendigkeit nicht in die Gewaltspirale zu geraten und die politischen Bedingungen entsprechend zu verändern.

Das enge formale Konzept erlaubt eine inhaltliche Öffnung in alle Richtungen. Apeirogon ist ja auch der Titel des Buches, dies ist eine zweidimensionale Fläche mit einer zählbaren unendlichen Anzahl von Seiten. So ist der Roman ein feinziseliertes Mosaik aus ganz unterschiedlichen Blicken auf ganz unterschiedliche Aspekte und Themen aus dem Leben der beiden Männer, auf deren Bewältigung ihrer Trauer über den Verlust ihrer Töchter, über ihre Überzeugung, nicht in den Zyklus von Gewalt und Gegengewalt zu geraten, ihren Alltag, ihre Geschichte. Aber auch auf unzählige Aspekte aus der Geschichte von Israel und Palästina, aus dem Holocaust, der Intifada, gewaltsame Zusammenstösse in anderen Teilen der Welt, die Suche nach Frieden, Kunst, Musik, Theater. Ein überwältigendes Panorama von unterschiedlichen Aspekten, Sichtweisen, Blickwinkel ... Da taucht der Seiltänzer Philippe Petit auf, der irische Priester Christopher Costigan, der im 19. Jahrhundert den Jordan und das Tote Meer erforschte, das 639 Jahre dauernde Orgelprojekt von John Cage in der Kathedrale von Halberstadt und immer wieder Vögel und Wasser, die frei – wenn auch nicht ungefährdet – alle Grenzen und Mauern überwinden. Und alle bilden Seiten und Sichtweisen auf die Geschichte von Bassam und Rami. Einzelne Sätze, Begebenheiten tauchen wie bei einem Lied immer wieder als Strophen, als Wiederholungen auf. So auch der Satz: "Teilt man das Leben durch den Tod, erhält man einen Kreis." Das ist letztendlich auch, was McCann mit seinem Roman Apeirogon schafft – einen Kreis mit den beiden Protagonisten und ihren Geschichten zu bilden. Es kommt nicht mehr auf eine Positionierung an, es geht um die Menschen und deren ganz subjektives Erleben und Leiden. Da verneige ich mich tief. cn

Klappentext:

Rami Elhanan und Bassam Aramin sind zwei Männer. Rami braucht fünfzehn Minuten für die Fahrt auf die West Bank. Bassam braucht für dieselbe Strecke anderthalb Stunden. Ramis Nummernschild ist gelb. Bassams grün. Rami ist Israeli, Bassam Palästinenser. Beide Männer sind Väter von Töchtern. Beide Töchter waren Zeichen erfüllter Liebe, bevor sie starben. Ramis Tochter wurde 1997 im Alter von dreizehn Jahren von einem palästinensischen Selbstmordbomber vor einem Jerusalemer Buchladen getötet. Bassams Tochter starb 2007 zehnjährig mit einer Zuckerkette in der Tasche vor ihrer Schule durch die Kugel eines israelischen Grenzpolizisten. Ramis und Bassams Leben ist vollkommen symmetrisch. Ramis und Bassams Leben ist vollkommen asymmetsrisch. Rami und Bassam sind Freunde.

Apeirogon: eine zweidimensionale geometrische Form mit einer gegen unendlich gehenden Zahl von Seiten.

Während Apeirogon nach und nach seine nahezu unendlichen Seiten auffächert und die beiden Männer in seiner Mitte rahmt, enfaltet sich der Palästinakonflikt in seiner ganzen Historie und Komplexität. Dies ist ein Roman, der das Unbeschreibliche sinnlich und sinnhaft erfahrbar, greifbar macht. Ein kaleidoskopischer Text stellt die zeitlose Frage: Wie leben wir weiter, wenn das Liebste verloren ist? Und: wie kann der Mensch Frieden finden? Mit sich selbst, mit anderen.

Über die Autorin / über den Autor:

Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Rür seine Romane und Erzählungen erhielt er zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Award und den Rooney Prize for Irish Literature. Für Die grosse Welt erhielt er 2009 den national Book Award. Zum internationalen Bestsellerautor wurde er mit den Romanen Der Tänzer und Zoli. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in New York.

Volker Oldenburg lebt in Hamburg. Er übersetzte unter anderem David Mitchell, Oscar Wilde, T Cooper und Dinaw Mengestu. Für seine Arbeiten wurde er zuletzt mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Preis: CHF 22.50
Sprache: Deutsch (aus dem Englischen von Volker Oldenburg)
Art: Taschenbuch
Erschienen: 2022 (2020)
Verlag: Rowohlt
ISBN: 978-3-499-27187-8
Masse: 601 S.

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