Mathias Énard

Kompass

Mathias Énard entfaltet in seinem neuen Buch Kompass ein sehr weites Panorama aus Geschichte, Literatur, Philosophie und Musik, und man ist gut beraten, sich vom eindrücklichen Namensreigen nicht unterkriegen zu lassen. Gelingt einem das, wird man am Stelldichein der bekannten und weniger bekannten Persönlichkeiten grossen Gefallen finden.

Eine Handlung hat der Roman ja auch. Der Handlungszeitraum umfasst zwar nur eine Nacht, aber da der Protagonist Franz Ritter weit in die eigene und in die historische Vergangenheit zurückblickt, wird daraus fast eine Tausendundeinenacht. Ritter ist Musikwissenschaftler, lebt in Wien, ist ungeheuer belesen (wie sein Schöpfer Énard), auch weit gereist. Gerade hat er von seinem Arzt eine schlimme Diagnose erhalten und weiss nicht, ob dies seine letzte Nacht sein wird. Quälend langsam tröpfeln die Stunden dahin, an Schlaf ist nicht zu denken, und weil er sich keine Zukunft mehr ausmalen kann, denkt er eben zurück an sein nicht mehr ganz junges Leben, in dem vieles zusammengekommen ist. Der rote Faden war Sarah, die grosse, unerfüllte Liebe. Die Französin und Orientalistin, deren Dissertation sechs Kilo und zwei Bände umfasste, ist schön, intelligent, erfolgreich und so perfekt, dass sie einen mit der Zeit ein wenig zu nerven beginnt. (Aber vielleicht ist sie nur in den verliebten Augen von Franz so vollkommen und in Wirklichkeit ein normaler, wenn auch recht ehrgeiziger Mensch.) Mit ihr zusammen hat er Syrien bereist, denn wenn schon nicht das Bett, so teilen sie doch wenigstens die Faszination für den Orient, diesen Sehnsuchtsort der Ausgräber, Schriftsteller und Phantasten. Damaskus war einst ein Hot-Spot für Orientalisten jeder Couleur, für Abenteurerinnen, Opiumraucher und schräge Vögel, denen er persönlich oder in der Literatur begegnete, und die er nun nochmals Revue passieren lässt. Annemarie Schwarzenbach war hier, auch Agatha Christie und die verschrobene Adelige Marga d'Andurain, die (1933) davon träumte, als erste Europäerin auf eine Pilgerreise nach Mekka zu gehen (und später ertränkt wurde).

Einmal unternahmen Franz und Sarah eine Expedition in die Wüste und übernachteten illegal in einer Zitadelle. Vor dem Syrien-Krieg waren selbst die Ruinen noch herrlicher als manch heutiger Palast. Doch wie ein greller Blitz fährt in die Vergangenheitsbetrachtung immer wieder die abscheuliche Gegenwart des Assad-Regimes. Palmyra, das Juwel der Archäologen, ist eben auch Palmyra, Sitz eines berüchtigten Foltergefängnisses.

Franz Ritter ist Beobachter und Betrachter, Sucher von Wahrheiten und Finder von Sentenzen, bleibt aber selber blässlich und wenig fassbar, was nicht (allein) dem Opium, diesem "fabelhaften Nektar", zuzuschreiben ist. Der grüblerische Melancholiker lässt anderen den Vortritt, den Philosophen, Schriftstellern und Musikern, um seine zentrale Lebensfrage von allen Seiten abzuklopfen: die Frage nach der eigenen und der europäischen Identität, die Frage nach den Einflüssen des Orients, dem gemeinsamen Erbe und der kulturellen Differenz zwischen Ost und West. Heute wird dieses Thema ja wieder vermehrt aufgegriffen (zum Beispiel von Peter Frankopan im Licht aus dem Osten). Énard leistet einen wertvollen Beitrag zu dieser unbedingt notwendigen Debatte.

Zwar zählt Kompass zur Kategorie der Romane, aber eigentlich ist es eine Mischung aus verbriefter Geschichte, politischer Stellungnahme, Liebesromanze und Musikbetrachtung. Énard verwendet verschiedene Schreibtechniken, bringt (manchmal sehr lange) Zitate aus Werken anderer Geistesgrössen, Fotos, Briefe, Gedichte oder Auszüge aus Tagebüchern. Wie erwähnt, ist der Wissensstrom gewaltig, und man muss manchmal ein wenig rudern, um nicht unterzugehen, sondern mit Franz Ritter ans Ende dieser langen Nacht zu gelangen. Sie endet versöhnlich mit "der milden Sonne der Hoffnung". Maya Doetzkies

Klappentext:

Kompass ist das Buch der Stunde: eine leidenschaftliche Beschwörung der Passion des Westens für die orientalische Kultur. Unter dem Schock einer medizinischen Diagnose verbringt der Wiener Musikwissenschaftler Franz Ritter eine schlaflose Nacht. Er denkt an seine Forschungsreisen: Istanbul, Damaskus, Aleppo, Palmyra – alles Städte, die untrennbar mit Sarah verbunden sind, der berühmten Orientalistin, seiner grossen Liebe. Seine Erinnerung zaubert immer mehr Fakten, Romanzen und Geschichten hervor, die alle vom entscheidenen Beitrag des Orients zur westlichen Kultur und Identität zeugen.

Über die Autorin / über den Autor:

Mathias Énard, geboren 1972 in Niort (Westfrankreich), Studium der Kunstgeschichte und orientalischen Sprachen, lebt, nach längeren Aufenthalten im Nahen Osten, heute in Barcelona, wo er Arabisch lehrt. Für Zone erhielt er in Frankreich 2008 den Prix Décembre und 2009 den Prix du Livre Inter, in Deutschland den deutsch-französischen Candide Preis 2008. Für Kompass wurde Mathias Énard mit dem Prix Goncourt sowie dem Leipziger Buchpreis der Europäischen Verständigung ausgezeichnet. Es stand wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste.

Preis: CHF 20.50
Sprache: Deutsch (aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller)
Art: Taschenbuch
Erschienen: 2018 (2015)
Verlag: Piper
ISBN: 978-3-492-31234-9
Masse: 432 S.

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