Khaled Khalifa

Keiner betete an ihren Gräbern

"Bevor der Sturm aufkam und die grosse Flut über Hosch-Hanna hereinbrach, war es ganz still im Dorf gewesen. Innerhalb weniger Stunden waren die Häuser des kleinen Ortes zerstört, seine Bewohner ertranken mit all ihren Habseligkeiten." Mit der Beschreibung dieses Unglücks, das sich in Aleppo am Anfang des vergangenen Jahrhunderts ereignete, beginnt Khaled Khalifa seinen neuen Roman. In Keiner betete an ihren Gräbern erzählt Khalifa viele Geschichten über Menschen, Städte und Landstriche, die er auf wunderbare Weise zu einem grossen Roman über die Geschichte Syriens zusammensetzt.

Die besondere Freundschaft zwischen dem Christen Hanna und dem Muslim Zakaria bildet das Zentrum des Romans, in dem die einzelnen Erzählstränge zusammenlaufen. Hanna, der als Kind seine Eltern bei einem Massaker verloren hat, wird von der Familie Zakarias aufgenommen und wächst gemeinsam mit Zakaria und dessen Schwester Suad auf. Die drei Kinder sind wie Geschwister, erweitern ihren Freundeskreis um den Christen William und den Juden Azar. Sie sind eine Kinderschar, in der die Frage der religiösen Zugehörigkeiten keine Rolle spielen. Als die Kinder grösser, junge und wohlhabende Erwachsene werden, geniessen die Männer alle Freiheiten. Sie führen ein ausschweifendes Leben, erbauen sich einen eigenen "Lusttempel". Für Suad gelten diese Freiheiten nicht. Sie bleibt in der herrschenden Geschlechterordnung gefangen. Ihr Aktionsradius beschränkte sich auf das Haus und den Garten.

Als 1907 der Euphrat über die Ufer tritt und eine Flutkatastrophe auslöst, verliert Hanna seine Frau und sein Kind. Zakaria verliert sein Kind, nicht jedoch seine Frau, denn die kann sich aus den Fluten retten. Die beiden Freunde sind zum Zeitpunkt des Unglücks nicht im Dorf, sondern in ihrem "Lusttempel" in Aleppo. Als Hanna und Zakaria von den Ereignissen in Hosch-Hanna erfahren, eilen sie in ihr Dorf zurück. Der Anblick der Zerstörung und der Verlust der Familie stellt für Hanna einen Wendepunkt dar. Er fühlt sich schuldig, sondert sich von den Menschen ab, zieht sich in sich selbst zurück. Zakaria wiederum stürzt sich in Aktivitäten. Er kümmert sich um die Beerdigung der Toten und organisiert eine Trauerfeier, in der noch alle an den Gräbern beten. Doch diese Gemeinsamkeit, für der Friedhof eine symbolische Ordnung darstellt, beginnt sich langsam aufzulösen. Rückblickend erzählt Khaled Khalifa diesen gewaltsamen gesellschaftlichen Zerfallsprozess, der auch die Freundschaft zwischen Hanna und Zakaria nicht unberührt lässt. Als die Christen versuchen, den durch das Land pilgernden Hanna für ihre machtpolitischen Zwecke zu instrumentalisieren, bekommt die Beziehung zwischen den beiden Männern Risse. Zakaria wird als Muslim von christlichen Fundamentalisten zum "Anderen" gemacht und sukzessive aus dem Leben seines Freundes verbannt. Aber Zakaria ist gesellschaftlich noch mächtig und kann sich den religiösen Eiferern entgegenstellen. Er gibt seinen Freund nicht auf, bis dieser 50 Jahre nach der grossen Flut beschliesst, sein Leben in den Fluten des Euphrats zu beenden. Der Roman endet dort, wo er seinen Anfang genommen hat. Dazwischen liegt eine Unmenge an erzählten Geschichten, die Khaled Khalifa zu einem hochkomplexen Text zusammenführt. Auch wenn der Autor die ursprünglich angedachte Vielzahl von Figuren auf 60 reduziert hat, ist es für die Leserin schwierig, die Übersicht über das "Personal des Romans" zu behalten. Dank der tollen Arbeit von Larissa Bender, die dieses Buch nicht nur grossartig übersetzt, sondern auch ein Namensverzeichnis erstellt hat, wird die Leserin/der Leser mit sicherer Hand durch das dichte und mäandernde Geflecht der erzählten Geschichten geführt.

Ich empfehle dieses Buch aus zwei Gründen. Die Leserin/der Leser taucht in eine Erzähltradition ein, die an das Geschichten Erzählen der Grosseltern erinnert. Von einer Geschichte geht es in die andere, die wird wiederum Ausgangs- und Anknüpfungspunkt für eine weitere Geschichte. Khaled Khalifa demonstriert in diesem Buch diese Kunst des Erzählens, was die Lektüre dieses Buches zu einem spannenden Erlebnis macht. Inhaltlich finde ich die Geschichte der Verwandlung von Hanna – von einem lasterhaften jungen Mann in einen wundertuenden "Heiligen" – nicht ganz schlüssig. Aber, und das ist der zweite Grund für die Empfehlung, die Beschreibung dieses Transformationsprozesses ist als besonders gelungen zu bezeichnen. Sie kann als Lehrstück dafür angesehen werden, dass Religionen sogenannte "Wunder" nicht nur produzieren, sondern sie auch politisch in den Dienst nehmen. Das Ergebnis ist eine Ethnisierung von Politik, die zu Gewalt und Tod führt und niemand mehr an ihren Gräbern betet. Ob in Syrien, im ehemaligen Jugoslawien, Ruanda oder sonst wo auf der Welt. Doris Gödl

Klappentext:

Am Ufer des Flusses Euphrat pulsiert zum Ende des 19. Jahrhunderts das Leben, in Aleppo herrscht reger Handel auf den Strassen. Muslime, Christen und Juden, Araber und Osmanen leben ohne Hass miteinander.

Hanna ist Christ, er wächst in einer muslimischen Familie auf, deren Sohn Zakaria sein bester Freund wird. In die Tochter, die schöne Suad mit den langen Wimpern, verliebt er sich. Im Jahr 1907 tritt der Fluss über die Ufer und mit dem Hochwasser setzen Veränderungen ein, die nicht nur Hannas Leben betreffen, sondern das ganze Land erschüttern, über Generationen hinweg.

Suad wird mit fünfzig den Schleier ablegen und beginnen, für die Rechte der Frauen zu kämpfen. eine von ihr organisierte Modenschau wurde von fanatischen Anhängern des Islam brutal gestört. Doch Suad gibt nicht auf, sie will als freie Frau durch die Strassen gehen und hat gelernt, sich vor nichts mehr zu fürchten.

rückblenden, Zeitsprnge und Erinnernungen brechen die Chronologie auf, die Geschichten verzweigen sich. Hier ist ein Meistererzähler am Werk, der uns die Bildhaftigkeit der arabische Sprache näherbringt und die kulturelle Vergangenheit Syriens vor Augen fürht, ein Reichtum, der unwiederbringlich verloren ist.

Über die Autorin / über den Autor:

Khaled Khalifa wurde 1964 in Aleppo, Syrien, geboren. Er studierte Jura an der Universität Aleppo und war Mitbegründer und Mitherausgeber der Literaturzeitschrif Alif sowie Mitglied des zu Beginn der Achtzigerjahre gegründeten Literatrischen Forums an der Universität Aleppo. Er ist Autor von zahlreichen Romanen und Drehbüchern. Er lebt in Damaskus. Shortlisted für den International Prize for Arabic Fiction, ausgezeichnet mit der Naguib Mahfouz Medal for Literature.

Larissa Bender, geboren 1958 in Köln, studierte Islamwissenschaft, Ethnologie, Kunstgeschichte und Soziologie und lebte mehrere Jahre in Syrien. Sie übersetzte u.a. Abdalrachman Munif, Fadhil al-Azzawi, Samar Yazbek, Niroz Malek, Dima Wannous und Hamed Abboud.

Preis: CHF 36.50
Sprache: Deutsch (aus dem Arabischen von Larissa Bender)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2022 (2019)
Verlag: Rowohlt
ISBN: 978-3-498-00204-6
Masse: 541 S.

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