Joseph Andras

Die Wunden unserer Brüder

Es ist ein schmales Buch von knapp 140 Seiten, ein in seiner Schlichtheit ungewöhnlich dichter und bewegender Text, der ein lange verdrängtes Thema der Geschichte Frankreichs literarisch angeht: den Algerienkrieg. Joseph Andras greift das reale Schicksal von Fernand Iveton auf, eines Algerienfranzosen, der als Dreher in den staatlichen Gaswerken arbeitete. Er wurde während dem Unabhängigkeitskrieg – von Frankreich lange nur als "die Ereignisse in Algerien" heruntergespielt – 1957 als einziger Europäer hingerichtet. Iveton war in einfachen Verhältnissen in einem arabischen Viertel Algiers aufgewachsen, wo Menschen mit arabischen, jüdischen und europäischen Wurzeln zusammen lebten. Zunehmend schockiert darüber, wie Frankreich sämtliche Forderungen nach Gleichberechtigung der arabischen Mehrheit ignorierte und die Menschen systematisch erniedrigte, engagierte er sich als Mitglied der kommunistischen Partei auch in der Befreiungsfront FLN. Er träumte von einem Algerien, wo arabische und europäische Werktätige die vielen kleinen französischen Despoten stürzen und gemeinsam ein neues Regime auf der Basis der Gleichberechtigung erkämpfen würden. Er war bereit, für seine Ideale ein Zeichen zu setzen und etwas zu riskieren, ohne dabei jedoch Menschenleben aufs Spiel zu setzen. Die Bombe, die er in ein verlassenes Nebengebäude seiner Fabrik schmuggelte, sollte erst nach Arbeitsschluss explodieren, wenn weit und breit niemand mehr auf dem Fabrikgelände war. Doch Iveton wurde denunziert und schon am Nachmittag von der Polizei von seinem Arbeitsplatz weg ins Gefängnis gebracht. Dort wurde er aufs Übelste gefoltert bis er schliesslich ein paar Namen preisgab, hoffend, dass die Gefährten sich unterdessen in Sicherheit gebracht hatten.

Die Gefängnisszenen werden immer wieder unterbrochen von Rückblenden auf das Leben von Fernand Iveton, insbesondere der Erzählung, wie er Hélène kennen lernte, eine starke und unabhängige Frau, damals während seines ersten und einzigen Frankreichaufenthalts. Hélène half in der Pension aus, wo er während seiner Tuberkulosebehandlung untergebracht war. Sie stammte aus einer polnischen Emigrantenfamilie, hatte mit sechzehn einen Schweizer geheiratet um ihrem gewalttätigen Vater zu entkommen, war aber bald darauf geschieden und alleinerziehende Mutter eines Jungen. Schon bald ist klar, dass die beiden heiraten und sie mit ihm geht, nach Algerien, an die Sonne, und auch ihr Sohn nachkommt, sobald das Schuljahr zu Ende ist. Hélène gefällt ihr neues Leben, auch wenn sie sich in gewissen Dingen anpassen muss, in der Öffentlichkeit rauchen, zum Beispiel, geht für eine Frau hier nicht. Sie liebt den hellen Kalk der Häuser, das Meer in seiner Selbstverständlichkeit, die Süssigkeiten, die man ihr im Quartier während dem Ramadan schenkt, den Klang der fremden Sprache, das Leben in einer Stadt zwischen zwei Welten, das Nebeneinander von Farben und Kulturen. Die Beziehung zu Hélène, die sich nicht scheut, dem verantwortlichen Polizeibeamten solange entschlossen entgegen zu treten und mit ihrem Blick zu fixieren, bis er ihr gestattet, Fernand saubere Kleider für den Prozess zu bringen, sowie die Solidarität seiner arabischen Zellengenossen trägt Fernand durch die Zeit seiner Inhaftierung. Auch als er in einem ersten Prozess zum Tod verurteilt wird, glaubt er fest daran, dass diese Strafe noch zurückgezogen wird, schliesslich hat er ja niemanden umgebracht, nicht einmal einen Sachschaden angerichtet. Doch das Urteil wird, trotz dem Einsatz seiner Verteidiger, bestätigt, das Gnadengesuch vom sozialistischen Staatspräsidenten René Coty und dem damaligen Justizminister François Mitterand abgelehnt. Man weicht dem Druck der Strasse, der grossen Masse der Algerienfranzosen, die in Iveton den ruchlosen Verräter sehen. Die kommunistische Linke engagiert sich nur zögerlich für ihr Parteimitglied, zu offensichtlich sind die Parallelen zum von der Sowjetunion 1956 niedergeschlagenen Ungarnaufstand.

Es könnte ein trockener und deprimierender Politroman sein, doch auch wenn die Erzählung nahe an den politischen Fakten bleibt, werden die Personen nicht von den Fakten erdrückt. Joseph Andras weiss sie so lebendig und liebenswert zu gestalten, dass die Geschichte berührt, über das skandalöse, geschichtliche Ereignis hinaus. Über den Autor ist abgesehen von seinem recht jungen Alter (Jahrgang 1984) kaum etwas zu erfahren, ausser dass er in der Normandie lebt und den Prix Goncourt du premier roman (nicht zu verwechseln mit dem "richtigen" Prix Goncourt) nicht angenommen hat, was in der französischen Presse zu allerhand Spekulationen Anlass gab. Die Qualität des Textes liess gar die Idee eines Pseudonyms eines bekannteren Autors aufkommen, eine These, die aber unterdessen widerlegt ist. Joseph Andras – natürlich ein Pseudonym – findet ganz einfach, dass das, was er zu sagen hat, im Buch steht. Elisa Fuchs

Klappentext:

Fernand Iveton ist dreissig, als er am 14. November 1956 für die algerische Unabhängigkeitsbewegung FLN eine Bombe legt. Der Algerienfranzose und Kommunist will nicht mehr nur reden, sondern im Kampf für die Freiheit seines Landes ein klares Zeichen setzen. Um keine Opfer zu riskieren, deponiert Iveton den Sprengsatz in einem verlassenen Gebäude einer Gasfabrik in Algier. Doch noch vor der Detonation wird er verhaftet. Nach tagelanger Folter fällt vor einem Militärgericht das Todesurteil, und nur drei Monate später, am 11. Februar 1957, wird Iveton unter dem damaligen Justizminister François Mitterrand in Algier hingerichtet.

Joseph Andras erzählt Ivetons Verhaftung und Prozess in schnellen, scharf geschnittenen Bildern. Dazwischen entfaltet er in Rückblenden dessen private Geschichte – die Kindheit in einem arabischen, fast dörflichen Viertel von Algier, das Leben als Fabrikarbeiter mit kommunistischen Überzeugungen, den der Tod des besten Freundes zum politischen Handeln treibt, die grosse Liebe zu seiner Frau Hélène. All das verschmilzt zu einem dichten, zutiefst menschlichen Roman, der ein neues Licht auf Frankreichs Kolonialgeschichte und die Hintergründe vieler heutiger politischer Entwicklungen wirft.

Über die Autorin / über den Autor:

Joseph Andras wurde 1984 geboren. Er lebt in der Normandie. Für sein von der Presse gefeiertes Buch Die Wunden unserer Brüder wurde er mit dem Prix Goncourt für das beste Romandebüt ausgezeichnet, den er abgelehnt hat.

Claudia Hamm ist Theaterregisseurin, Autorin und Übersetzern von u.a. Emmanuel Carrère, Édouard Levé und Mathias Énard. 2016 erhielt sie den Übersetzerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft.

Preis: CHF 25.90
Sprache: Deutsch (aus dem Französischen von Claudia Hamm)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2017 (2016)
Verlag: Hanser
ISBN: 978-3-446-25641-5
Masse: 157 S.

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