Leïla Slimani

Das Land der Anderen

Leila Slimanis Das Land der Anderen der erste Band einer Trilogie, erzählt die Geschichte des jungen Ehepaares Belhaj im Marokko der 40er und 50er Jahre des letzten Jahrhunderts. Amine Belhaj wird als Spahi in die französische Armee eingezogen und kämpft im Elsass als Offizier an der Seite der Franzosen gegen die deutschen Besetzer. Mathilde, jung, abenteuerlustig und liebestoll, verliebt sich in diesen wunderschönen und für sie exotisch aussehenden Mann. Am Ende des Krieges verlässt sie ihre elsässische Kleinstadt, in der sie die Schwester Irène und den Vater Georges zurücklässt, um sich in Meknès mit Amine zu verheiraten. So beginnt ihr Leben im Land der Anderen.

Das Thema des Fremdseins zieht sich wie ein roter Faden durch die Familiensaga. Wir begegnen starken Persönlichkeiten, vorab Mathilde und Amine, die sich lieben und streiten, respektieren und misstrauen, verletzen und trösten, und schliesslich doch immer als solidarisches Paar die Mühen eines äusserst harten Lebens auf sich  nehmen und sich eine Existenz auf dem Land aufbauen: Ein harter, steiniger Boden wird durch Amines Geschick und mit der Hilfe des ungarischen Arztes und Freundes Dragan in fruchtbares Land verwandelt, auf dem bald Orangen- und Pfirsichbäume blühen. Mathilde, anfänglich verloren, einsam, melancholisch, in Träumereien und Fantasiewelten à la Madame Bovary versunken, übernimmt allmählich die Kontrolle über den grossen Haushalt des Landgutes. Sie kümmert sich tatkräftig und sehr kompetent um ihre Kinder Aicha und Selim, die Schwiegermutter Mouilala, die Schwägerin Selma, die Dienstmägde und die Feldarbeiter.

Gespannt und ergriffen nimmt man als Lesende teil am menschlichen Drama der Personen, das durchdrungen ist von Krisen und Rückschlägen, Hoffnung und Zweifel. Slimani beschreibt das emotionale Hin und Her ihrer Figuren, die in einer Gesellschaft zwischen Tradition und Moderne, zwischen kolonialen Ansprüchen und Forderungen nach Unabhängigkeit leben. Alle sind in Widersprüche verstrickt und müssen um ihre persönliche Haltung ringen. Einigen Mitgliedern dieser Grossfamilie gelingt das nicht, und sie gehen zu Grunde. So Omar, der Bruder von Amine. Sowohl der Hass auf die französische Gesellschaft, die in der modernen Neustadt von Meknès ihren Privilegien frönt und arrogant oder auch belustigt die Unkultiviertheit der in der Medina ansässigen Einheimischen kommentiert, als auch die Verachtung für seine aufmüpfige Schwester Selma, die ihre Sexualität frei ausleben will, treiben Omar in die Arme von gewalttätigen Extremisten. Auch Selma darf nicht die Liebe leben, die sie sich ersehnt. Von einem französischen Geliebten geschwängert und dann im Stich gelassen, wird sie, um die Familienehre zu retten, mit Mourad, dem marokkanischen Gutsarbeiter und Amines Freund verheiratet.

Das genaue Hinschauen der Autorin auf die wunden Punkte der marokkanischen Gesellschaft der Nachkriegsjahre und ihr menschlicher Blick auf die schmerzlichen Erfahrungen ihrer Mitglieder, machen unter anderem die Stärke des Romans aus. Gegensätzliche Haltungen gegenüber Werten, der in der Familiengeschichte aufeinanderprallenden Kulturen erschweren den Menschen das Alltagsleben. Dazu spielt der Roman in der schwierigen politischen Situation jenes Jahrzehntes, in dem die Einheimischen aufbegehren. Der Wunsch nach Unabhängigkeit wird immer stärker und damit für die Personen im Roman auch die Frage, wo und zu wem man steht.

Slimani schafft es mit ihrer Erzählkunst, das Fresko einer marokkanischen Gesellschaft entstehen zu lassen, ohne für jemanden Partei zu ergreifen. Die menschlichen Schicksale sind einfühlsam und mit einem grossen Verständnis für die komplexen psychologischen Vorgänge im Innenleben von verunsicherten Menschen geschildert. Wie wird alles weiter gehen? Was wird mit der Familie Belhaj im unabhängigen Marokko geschehen? Ich erwarte die folgenden zwei Bände der Trilogie mit Ungeduld. Angela Willimann

Klappentext:

Mathilde, eine junge Elsässerin, verliebt sich am Ende des Zweiten Weltkriegs in Amine Belhaj, einen marokkanischen Offizier im Dienst der französischen Armee. Die beiden heiraten und lassen sich in der Nähe von Meknès nieder, am Fuss des Atlas-Gebirges, auf einem abgelegenen Hof, den Amine von seinem Vater geerbt hat. Während er versucht, dem steinigen Boden einen kargen Ertrag abzutrotzen, zieht Mathilde die beiden Kinder gross. Voller Freiheitsdrang hatte sie den Aufbruch in ein neues, unbekanntes Leben gewagt und muss doch bald ernüchternde Erfahrungen machen: den alltäglichen Rassismus der französischen Kolonialgesellschaft, in der eine Ehe zwischen einem Araber und einer Französin nicht vorgesehen ist, die patriarchalischen Traditionen der Einheimischen, das Unverständnis des eigenen Mannes. Aber Mathilde gibt nicht auf. Sie kämpft um Anerkennung und ihr Leben im Land der Anderen.

Über die Autorin / über den Autor:

Die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani gilt als eine der wichtigsten literarischen Stimmen Frankreichs. Slimani, 1981 in Rabat geboren, wuchs in Marokko auf und studierte an der Pariser Eliteuniversität Sciences Po. Ihre Bücher sind internationale Bestseller. Für den Roman Dann schlaf auch du wurde ihr der renommierte Prix Goncourt zuerkannt. All das zu verlieren, ebenfalls preisgekrönt, erscheint in 25 Ländern. Das Land der Anderen stand wochenlang auf Platz 1 der französischen Bestsellerliste. Der Roman basiert auf der Geschichte ihrer Grosseltern. Leïla Slimani lebt mit ihrer Familie in Paris

Amelie Thoma übersetzt Literatur aus dem Französischen, u.a. Marc Levy, Joël Dicker, Françoise Sagan und Simone de Beauvoir.

Preis: CHF 18.50
Sprache: Deutsch (aus dem Französischen von Amelie Thoma)
Art: Taschenbuch
Erschienen: 2022 (2020)
Verlag: btb
ISBN: 978-3-442-77261-2
Masse: 382 S.

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