Alexandre Hmine

Milchstrasse

Ich habe Milchstrasse sehr gerne gelesen. Alexandre Hmines Sprache ist sorgfältig und leise, wenn auch die Wörter und der Inhalt es nicht immer sind. Wie er die verschiedenen Erinnerungsstränge abwechselnd zusammenfügt, ist grossartig.

Hmine erschafft auf überzeugende Art und Weise ein differenziertes Bild des in einem kleinen Dorf im Tessin heranwachsenden Ich-Erzählers, dessen innere Welt ins Schwanken gerät, als er mit zehn Jahren zum ersten Mal in eine grosse Stadt in Marokko reist und seinen Verwandten vorgestellt wird. Alles ist ihm fremd und unverständlich. Es ist jedoch der Beginn des unvermeidlichen Kennenlernens. So pendelt er zunehmend zwischen den Sprach- und Lebenswelten eines Tessiner Dialektes – er wächst bei einer verwitweten Katholikin auf –, des marokkanischen Arabischs – die Sprache seiner Mutter, die er aber weder spricht noch versteht –, der literarischen italienischen Sprache, die er als Gymnasiast und Student entdeckt, und des Eishockey Jargons – seine Passion. Das unvermeidliche Kennenlernen intensiviert sich, als er wegen der Erkrankung seiner Pflegemutter zu seiner Mutter und deren neuen Partner zieht.

Die Identitätssuche wird zu einer Suche, die am Schluss des Romans nicht beendet ist. Seine Fragen wohin er sich hingezogen bzw. zugehörig fühlt, werden nicht abschliessend beantwortet, sondern es kristallisiert sich zunehmend heraus, dass seine Lebenssituation gerade durch dieses Auf und ab und Hin und her charakterisiert ist und sich durch eine eigene Qualität auszeichnet. Er muss und kann sich nicht entscheiden. Ein erhellender Roman, den ich sehr empfehle. ap

Klappentext:

Ein Junge mit marokkanischen Wurzeln kommt im Tessin zur Welt und wird in die Obhut einer alten Witwe gegeben, Elvezia. Die spricht Dialekt, klappert mit ihren Zoccoli durchs Haus, wärmt dem Jungen die Milch für die Ovomaltine, sie lehrt ihn das Vaterunser und näht jedes Jahr ein neues Karnevalskostüm. Bei Elvezia ist sein Zuhause. Und draussen, da wartet ein ganzes Dorf mit Schnee bis in den Frühling hinein, mit tausend Spielen auf der Piazza, einer Bude im Wald, dem Einkaufsladen, dem Fussballplatz. Als seine Mutter ihn dann das erste Mal mit nach Marokko nimmt, erwartet ihn dort eine andere Familie, die eine fremde Sprache spricht und ihn einem seltsamen Ritual unterzieht. In dem Kind regen sich erste Zweifel. Auf dem Dorffest schmeckt die Wurst nicht mehr; Schweine fressen ihre eigene Kacke, hat die Mutter gesagt. Auch irritierend, dass er plötzlich aus dem Religionsunterricht geholt wird. Und wozu nur soll er Arabisch lernen?

Alexandre Hmine lässt mit starken Bildern und Momentaufnahmen eine Kindheit und Jugend vorbeiziehen, in der sich immer mehr ein Zwiespalt auftut. Zwischen zwei Welten hin- und hergerissen, droht der Heranwachsende die Balance zu verlieren, Identität und Zugehörigkeit stehen auf dem Prüfstand. Ein Entwicklungsroman unserer Gegenwart, originell erzählt und preisgekrönt.

Über die Autorin / über den Autor:

Alexandre Hmine, geboren 1976 in Lugano, hat in Pavia Literatur studiert und unterrichtet heute Italienisch an einem Gymnasium in Lugano. Sein nun auf Deutsch vorliegender Debütroman wurde mit dem Studer/Ganz-Preis und 2019 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Preis: CHF 28.00
Sprache: Deutsch (aus dem Italienischen von Marina Galli)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2021
Verlag: Rotpunktverlag
ISBN: 978-3-85869-905-3
Reihe: Edition blau
Masse: 240 S.

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