Sylvain Prudhomme

Allerorten

Welches Leben ist das richtige? Wie kann ich die Zeit, die so schnell vergeht, möglichst bewusst und intensiv erleben? Sie ausdehnen durch eine Verlangsamung des Alltags oder sie ausfüllen mit möglichst vielen verschiedenartigen Erfahrungen? Um diese Frage kreist Sylvain Prudhomme’s 2019 mit dem Prix Femina ausgezeichnete Roman Par les routes. Erzählt wird eine einfache Geschichte: Sacha, ein 40jähriger Schriftsteller, der sich gerade in einer Schaffenskrise befindet und Distanz von seinem eher eintönigen und melancholischen Pariser Leben gewinnen will, lässt sich in V., einer kleinen Stadt in der Provence nieder. Kaum dort angekommen, begegnet er dem Autostopper, einem Freund aus Studentenzeiten, von dem er sich vor zwanzig Jahren getrennt hat. Er hatte damals das Gefühl, er müsse sich lossagen von diesem abenteuerlustigen Freund, der ihn zu stark in sein Leben, in seine immer wieder neuen Autostopptouren hineinzog. 

Doch im Gegensatz zu Sacha hat sich der Autostopper niedergelassen und eine Familie gegründet. Er wohnt mit seiner Frau Marie, einer Übersetzerin, und dem etwa achtjährigen Sohn Agustín in einem hübschen Haus mit Garten. Sacha wird freundschaftlich aufgenommen von der kleinen Familie, verbringt Nachmittage im gemütlichen Garten, spielt mit Agustín, diskutiert mit dem Autostopper – dessen Namen man nie erfährt – und mit Marie, die ihn von Anfang an fasziniert. Doch das Leben der Kleinfamilie ist nicht so idyllisch und geruhsam wie es den Eindruck macht. Der Autostopper hat sich nicht verändert. Er verdient mit Gelegenheitsarbeiten etwas Geld, doch immer wieder zieht es ihn weg von zuhause. Zwei, drei Wochen ist er oft unterwegs, als Autostopper auf den Strassen ganz Frankreichs. Und es scheint, dass nun, da Sacha gewissermassen als Zeuge da ist, dem er von seinen Begegnungen mit den Autofahrenden erzählt, und dem er von unterwegs Umschläge voller Polaroidfotos von jenen schickt, die ihn für eine kurze oder lange Wegstrecke in ihr Fahrzeug aufgenommen haben, seine Ausflüge sogar länger und häufiger werden. Marie erhält hie und da eine Postkarte ihres freiheitsliebenden Mannes, und manchmal ruft er an, um mit Agustín zu sprechen. 

In kurzen und einfachen, aber dichten, sich nahe an den gesprochenen Dialogen bewegenden Sätzen wird die sich langsam entwickelnde Dynamik zwischen den drei, respektive vier Personen beschrieben. Es ist nicht so, dass der Autostopper fliehen würde von zuhause, er liebt Marie und Agustín, aber er braucht dieses Mehr an Leben, an Austausch, an Erfahrungen, das ihm die unvorhersehbaren Begegnungen mit den verschiedensten Menschen – von der jungen Frau im Sportwagen über das ältere Ehepaar in ihrem Familienauto bis zum Müllwagenfahrer – verschaffen. Gleichzeitig ist er mit dem gleichen gemalten Schild unterwegs wie damals, hört die gleichen alten Lieder. Marie hat sich an seine Abwesenheiten gewöhnt und sieht darin auch Vorteile. Vielleicht liebt sie ihren Mann gerade auch wegen seinem unersättlichen Drang, unterwegs zu sein, seiner jugendlichen Begeisterungsfähigkeit. Nachdem er erst auf Autobahnen und in Städten unterwegs war, erkundet er nun Dörfer und Weiler, deren Namen vielfältige Assoziationen wecken: Soupir, Survie, Grâces, Bizous, Réveil, Viens ... 

Doch irgendwann wird es auch Marie zu viel, sie kann nicht mehr und braucht ihrerseits eine Auszeit. Als sie zurückkommt, ist Sacha da, der verlässliche Freund, der Agustín von der Schule abgeholt und für ihn gekocht hat, der Schriftsteller, mit dem sie sich über literarische Entdeckungen austauschen kann. Und irgendwann übernimmt Sacha, schon lange in Marie verliebt, den Platz des immer länger abwesenden Autostoppers. Wie sich ganz allmählich auch Maries Gefühle für ihn entwickeln ist mit grosser Sensibilität und mit Respekt des Autors vor seinen Personen geschrieben. Ein sehr französisches Buch, scheint mir, das in manchem an einen Film erinnert, der subtile zwischenmenschliche Regungen in dichten Dialogen zum Ausdruck bringt. Und auch wenn einem das Ganze manchmal etwas konstruiert vorkommt, klingt doch die aufgeworfene Frage: Was ist das wahre Leben? nach der Lektüre noch lange nach. Elisa Fuchs

Klappentext:

Sacha sehnt sich nach Einsamkeit. Müde vom lauten Paris, zieht er in eine Kleinstadt, irgendwo in der Provence. Fernab von allem, zwischen Platanen und menschenleeren Plätzen, möchte er sich dem Schreiben widmen. Doch dann trifft er auf einen alten Jugendfreund, den "Anhalter" – und der ist immer noch derselbe: Wie schon zu Jugendzeiten bricht er auf ohne Vorwanrung, hängt sich ein Schild um den Hals – Nach Auxerre oder Nach Landes – und reist kreuz und quer durch Frankreich. Seine Frau Marie und sein Sohn Agustín bleiben allein zurück.

Aus Wochen des Wartens werden Monate. Sacha kümmert sich rührend um Agustín und knüpft ein immer engeres Band zu Marie. Eine zarte Geschichte über Sehnsüchte und die grosse Frage, was ein erfülltes Leben ausmacht.

Über die Autorin / über den Autor:

Sylvain Prudhomme, geboren 1979, ist Schriftsteller und Übersetzer. Seine Kindheit verbrachte er in Kamerun, Burundi, Mauritius und im Niger. In Paris studierte er Literaturwissenschaften und arbeitete danach mehrere Jahre in Afrika. Er ist Autor von mehreren Romanen und Mitbegründer der Zeitschrift Geste. Er wurde u.a. mit dem Prix littéraire Georges Brassens, dem Prix littéraire de la Porte Dorée, dem Prix François Billetdoux und dem Prix Révélation de la Société des Gens de Lettres ausgezeichnet. 2019 erhielt er für Allerorten den Prix Femina.

Claudia Kalscheuer, geboren 1964, übersetzt seit 1994 aus dem Französischen, u.a. Werke von Marie NDiaye, Alexander von Humboldt und Henry Bauchau. Sie wurde mit dem André-Gide-Preis und dem Internationalen Literaturpreis ausgezeichnet.

Preis: CHF 30.00
Sprache: Deutsch (aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2020 (2019)
Verlag: Unionsverlag
ISBN: 978-3-293-00561-7
Masse: 253 S.

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