Sophie Calle

Das Adressbuch

Darf mensch das? Ohne die Erlaubnis der im Visier der Nachforschungen stehenden Person Menschen aus ihrem Umfeld über deren Leben zu befragen? Ein Missbrauch, der zwar erst möglich wird, da gewisse Menschen sich bereit erklären, Auskunft über den in Paris wohnhaften, Rom besuchenden und in Ägypten vernarrten Besitzer des Adressbuches zu geben. Ich verspürte von Anfang an ein tiefes Entsetzen. Zudem machte ich mich durch das Lesen zur Mit-Komplizin, Mit-Voyeurin, Mit-Stalkerin! Noch mehr Entsetzen machte sich breit und doch gleichzeitig wurde ich den Gedanken nicht los: Ist es vielleicht nicht einfach die perfekteste Inszenierung eines Übergriffs auf die Privatsphäre einer Person? Und ist es nicht vielmehr Pierre, der Sophie Calle spiegelt? Welche Rolle spielt eigentlich die Tatsache, dass die Texte in einer Zeitung als Kolumne erscheinen? Was beabsichtigt tatsächlich die Autorin/Künstlerin? Das Adressbuch wirft viele Fragen auf, denen es sich lohnt nachzugehen. Ein rundum gelungenes Werk mit einem äusserst sorgfältigen Aufbau, einer schönen Sprache und treffenden Bildausschnitten und -inszenierungen. ap

Klappentext:

Sophie Calle findet ein Adressbuch und kopiert die Seiten daraus, bevor sie es anonym an den Besitzer, einen gewissen Pierre D., zurückgibt. Dann beginnt sie, zu denen, die in dem Buch verzeichnet sind, Kontakt aufzunehmen, sie trifft sich mit D.s Familie, Freunden, Bekannten, Affären. Mit jeder Begegnung wird Pierre D. plastischer und zugleich undurchdringlicher, Calles Recherche verkompliziert sich zusehends, während sie versucht, die schiere Vielzahl von Details – scheinbar Triviales wie potentiell Aufschlussreiches – zu dem bündigen Porträt eines Unbekannten zu fügen. Und im Lauf ihrer Nachforschungen hat Sophie Calle auch die eigenen Motive, Obsessionen und Ängste zu hinterfragen.

Sophie Calle hat diese Begegnungen mit den Menschen aus D.s Adressbuch in Text und Bild dokumentiert, 1983 erschienen diese Dokumentationen einen Monat lang als Serie in der französischen Tageszeitung Libération. Und lösten einen handfesten Skandal aus, der bis heute nachhallt.

Was interessiert uns an anderen? Und was verbirgt sich hinter unserem Interesse? Charakterstudie, Bekenntnis, Essay, Konzeptkunst – Sophie Calle unternimmt eine voyeuristische Abenteuerreise durch das Adressbuch eines Fremden und erfindet eine Form, in der Leben und Kunst, Rolle und Identität, Vertrautes und Unbekanntes ineinander zu oszillieren beginnen.

Über die Autorin / über den Autor:

Sophie Calle, geboren 1953, ist eine international renommierte Künstlerin mit einem methodischen Interesse an Überschreitung und Tabubruch, in ihren häufig autobiographischen, häufig kontroversen Arbeiten verschränkt sie Konzeptkunst mit oulipotischen Formenzwängen. Sie ist, in Paul Austers Worten, "eine unorthodoxe Frau, die ihr Leben einer Reihe ebenso ausgeklügelter wie bizarrer Privatrituale unterwirft. Manche nennen sie eine Fotografin, andere sehen in ihr eine Vertreterin der Konzeptkunst, wieder andere halten sie für eine Schriftstellerin, aber keine dieser Bezeichnungen erfasst sie auch nur annähernd." Calle lebt in Malakoff bei Paris.

Sabine Erbrich arbeitet als Lektorin und lebt in Berlin. Sie übersetzt aus dem Spanischen, Französischen, Portugiesischen und Englischen.

Preis: CHF 30.90
Sprache: Deutsch (aus dem Französischen von Sabine Erbrich)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2019
Verlag: Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-22510-3
Masse: 105 S.

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