Virginie Despentes

Das Leben des Vernon Subutex

Ich muss zugeben, dass die 1200 Seiten umfassende Trilogie Vernon Subutex von Virginie Despentes (auch) meine voyeuristische Neugier sehr befriedigt hat. Bei der Lektüre ist es mir wohl wie jener bürgerlichen Leserschaft der Jahre 1830 bis 1880 ergangen, die sich an den Berichten aus der damaligen Stadt Paris bei Honoré de Balzac und Emile Zola nicht satt lesen konnten. Gross war ihr Staunen über die ihrer Schicht unbekannten aber überwältigenden Lebensentwürfe. 

Die Fülle an treffenden und einfühlsamen Beobachtungen der Autorin Virginie Despentes hielt mich atemlos am Lesen. Viele Menschentypen mit ihren meist gescheiterten Existenzen erzählen von ihren Gefühlen und Gedanken. Es treten auf: Rockmusiker, Drogendealer, Prostituierte, Tattoo-Stecherinnen, Pornofilmproduzenten und -darstellerinnen, Coiffeusen, Clochards, Hundeliebhaber, Computerfreaks, engagierte Lehrer, alleinerziehende Mütter und Väter, Ausstellungsmacher, Bardamen, im Präkariat angestellte Sekretärinnen und Assistenten und viele andere mehr. Es sind Figuren zum Lieben und zum Hassen, und sie kommen aus allen Schichten. Der Roman entwickelt einen Sog, dem man sich schwer entziehen kann. Den vielen Personen gemeinsam ist ein Leben auf der Achterbahn: Sie erleben wenige Momente der Hoffnung und viele der Enttäuschung, sie kennen mehr den Absturz als den Aufstieg. Alle sind sie miteinander vernetzt.

Die Sprache der Autorin ist in ihrer Direktheit und Ehrlichkeit schonungslos und gerade deswegen nahe am Menschen. Despentes kann zuhören. Die von ihr in einer unzensierten Sprache geschilderten Schicksale führen in die Abgründe der menschlichen Seele. Es ist weniger der Plot der Geschichte als das genaue Sezieren unserer aktuellen Gesellschaft, das Virginie Despentes mehrere literarische Preise beschert hat. Sie beschreibt die vielen Verlierer und die wenigen Gewinner der globalisierten Welt mit grossem Einfühlungsvermögen, und sie nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. An die über weite Strecken verwendete obszöne Sprache musste ich mich zu Beginn gewöhnen. Sie ist aber stimmig mit den geschilderten Charakteren. Der Roman enthält auch eine musikalische Note: Jede Person erwähnt ihre Lieblingsmelodie, die an persönliche Erinnerungen gekoppelt ist. Es entsteht eine musikalische Atmosphäre, die den Leser hineinzieht in die Welt der Pariser Subkultur. 

Virginie Despentes trifft mit ihrer modernen Odyssee den Puls der Zeit. In diesem Sozialdrama erlebt der Leser die personale Erzählperspektive der Autorin, spürt ihre Betroffenheit und bewundert ihre treffenden Beobachtungen und Bewertungen über eine desorientierte Gesellschaft. Ich konnte Gefühle und Gedanken der Protagonisten mitempfinden und nachvollziehen, lachte und schämte mich auch ab und zu, weil ich mich bei politisch unkorrekten Gedanken ertappt fühlte. Vernon Subutex ist eine aufrüttelnde und verstörende Sozialanalyse. Sie machte mich hellhörig und sensibilisierte mich für die grossen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit. Angela Willimann

Klappentext:

Als Das Leben des Vernon Subutex 2015 in Frankreich erschien, erregte der Roman unmittelbar grosses Aufsehen. Wochenlang führte er die Bestsellerlisten an, war für zahlreiche Preise nominiert, die Kritik überschlug sich. Erzählt wird die Geschichte von Vernon Subutex und seinem rasanten sozialen Abstieg. Mit seinem Plattenladen hat er Pleite gemacht, und als einer seiner besten Freunde, der ihn finanziell unterstützt hat, stirbt, steht er plötzlich auf der Strasse. Weil er sich und der Welt sein Scheitern nicht eingestehen will, benutzt Vernon eine Notlüge, um sich reihum bei seinen alten Freunden und Weggefährten einzuquartieren, die er zum Teil seit Jahren nicht gesehen hat. Man begegnet ihnen allen: den Gescheiterten, den scheinbar Erfolgreichen, den Schrillen und den Durchgeknallten. Despentes erspart ihren Figuren nichts, lässt kein gesellschaftliches Thema unberührt. Digitalisierung, die Ängste einer verunsicherten Mittelschicht, Islamismus, der Aufstieg der Rechten – alles hat seinen Platz in diesem beeindruckenden literarischen Rundumschlag, in dem jedes Wort sitzt, jeder Satz nachhallt.

In ihrem fulminanten Comeback erschafft Virginie Despentes ein vielstimmiges Panorama einer Gesellschaft am Abgrund. Ein grosser Wurf, in Frankreich nicht umsonst mit Balzacs Die menschliche Komödie verglichen.

Über die Autorin / über den Autor:

Virginie Despentes, geboren 1969, wurde bereits mit ihrem Debütroman Baise-moi - Fick mich (2002), der in Frankreich auch verfilmt wurde, einem grossen Publikum bekannt. Seither hat sie mehrere Romane veröffentlicht. Für Apocalypse Baby erhielt sie 2010 den renommierten Prix Renaudot, ihr Roman Das Leben des Vernon Subutex wurde u.a. mit dem Prix Anaïs Nin ausgezeichnet. Im Januar 2016 wurde sie in die Académie Goncourt gewählt.

Claudia Steinitz übersetzt seit 30 Jahren französischsprachige Literatur, u.a. von Yannick Haenel, Véronique Olmi, Albertine Sarrazin und Lyonel Trouillot.

Preis: CHF 17.90
Sprache: Deutsch (aus dem Französischen von Claudia Steinitz)
Art: Taschenbuch
Erschienen: 2018 (2015)
Verlag: KiWi
ISBN: 978-3-462-05207-7
Masse: 399 S.

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