Nathalie Azoulai

Die Zuschauer

Die Zuschauer ist ein vielschichtiger Roman, reich an Metaphern über das Exil als universelle Erfahrung. Die Kernfamilie, um die sich der Roman entwickelt, wird nicht benannt. Überhaupt werden viele Umstände und die Identitäten nur angedeutet. Vielmehr stehen sie stellvertretend für viele andere Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten und deren Kinder wiederum in der neuen Heimat geboren sind. Der Roman ist hauptsächlich aus der Perspektive des 13-jährigen Sohnes geschrieben, der die Lieblosigkeit seiner Eltern mit seiner Liebe zur einjährigen Schwester aufwiegt und beharrlich herauszufinden versucht, weshalb seine Eltern damals weggehen mussten. 

Als Kinofilmliebhaberin hat die Autorin den passenden Titel – Die Zuschauer – gewählt. Die ProtagonistInnen sind Zuschauer, nicht Akteure, obwohl sie es zu sein vorgeben. So macht die Mutter ihren Alltag als dienende Ehefrau eines aggressiven Ehemannes durch das Eintauchen in die Traumfabrik Hollywood wett. Sie geht so weit, dass sie den Menschen, die sie trifft immer gleich eine Rolle in einem Film und den Namen der jeweiligen Filmperson zuweist. Dabei gilt zu beachten, dass Hollywood in den fünfziger Jahren der Sehnsuchtsort für viele Menschen im Orient war. So ist dieser Roman auch ein Roman über die Faszination des Orient gegenüber dem Okzident. Unzählige Filme werden erwähnt und die Kleidungsstücke der Schauspielerinnen werden als Identitätsträger akribisch beschrieben. Überraschenderweise erfahren wir nur von wenigen Personen im Buch die tatsächlichen Namen. So lernen wir zum Beispiel die Näherin Maria und deren Sohn Pepito kennen. Gegenüber Pepito entwickelt der Sohn, ein Musterschüler und Verehrer von General de Gaulle, sadistische Züge. Der soziale Abstieg der Eltern wird also auch von der kommenden Generation kompensiert.

Der Roman geht dringlichen Fragen nach, wie "Kann nach einem ersten Exil ein zweites folgen?", "Gibt es überhaupt ein Ankommen?". Es ging eine Weile bis ich mich an Nathalie Azoulais Schreibperspektive gewöhnt hatte, der Einstieg war nicht ganz einfach, aber umso spannender, als ich mich einlassen konnte. Ein ganz eigener Roman. Er lohnt sich! ap

Klappentext:

27. November 1967 – kurz nach dem Ende des Sechstagekriegs schaut eine jüdische Exil-Familie in Paris die TV-Übertragung der berühmt gewordenen Pressekonferenz von General de Gaulle, in der er die Juden als ein "Elitevolk, herrschbegierig und selbstbewusst" bezeichnet: Fassungslosigkeit breitet sich bei den Eltern aus, die Jahre zuvor über Nacht den Orient hatten verlassen müssen.

Nathalie Azoulai kreiert um dieses schockierende Schlüsselerlebnis einen fein gewobenen Text, der mit seinen schillernden Erzählfäden der Textur jenes dunkel leuchtenden Etuikleides gleicht, das die Mutter ihre Nachbarin Maria zu nähen beauftragt – scheint ihr doch nichts wichtiger zu sein, als in die nachgeschneiderten Kleider der grossen Hollywood-Filmdiven schlüpfen zu können, wie in deren glänzende, von Leidenschaft und Stolz geprägte Rollen. Ihr dreizehnjähriger von Sprachen besessener Sohn jedoch, der de Gaulle bislang als Held verehrte und unter seinem Bett Berichte über ihn gesammelt hat, beginnt den "Retter Frankreichs" zu hinterfragen, denn er spürt, dass etwas ins Wanken geraten ist. Immer wieder befragt er seine Mutter nach dem Grund ihres Exils, nach dem Moment, da sie wusste, dass sie ihr Land verlassen muss, erhält aber nur schemenhafte Erinnerungsfetzen zur Antwort. Bis er eines Nachts mithören wird, wie sie Maria von ihrer Vergangenheit erzählt …

In Die Zuschauer verknüpft Nathalie Azoulai Momente unerfüllter Leidenschaft und gut gehüteter Geheimnisse mit der magischen Illusionsmaschine Hollywoods und dem unbedingten Wahrheitsanspruch eines Kindes zu einer schillernden Erzählung über Identität und Exil.

Über die Autorin / über den Autor:

Geboren 1966 in Nanterre bei Paris als Tochter ägyptischer Juden, studierte Nathalie Azoulai Literaturwissenschaften und arbeitete nach ihrem Abschluss als Lehrerin, bevor sie Lektorin wurde. 2002 erschien ihr erster Roman. Heute lebt und arbeitet sie als Schriftstellerin und Drehbuchautorin in Paris. Die Zuschauer ist ihr siebter Roman und ihr zweiter in deutscher Übersetzung. Für ihren Roman An Liebe stirbt man nicht zählte sie 2015 zu den drei Finalisten des Prix Goncourt und wurde mit dem Prix Médicis ausgezeichnet.

Preis: CHF 30.00
Sprache: Deutsch (aus dem Französischen von Paul Sourzac)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2020 (2018)
Verlag: Secession
ISBN: 978-3-96639-020-0
Masse: 240 S.

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