Laurent Binet

Die siebte Sprachfunktion

In Binets Roman werden wir in das poststrukturalistische Paris der 80er Jahre versetzt. Wir tauchen ein in die Diskussionen der damaligen Zeit und finden uns in der universitären Welt von Barthes, Foucault, Derrida, Althusser, Kristeva und vielen anderen wieder. Auch die im Text auftauchende Musik, die Filme, die Politik versetzen uns in diese Jahre zurück. Es ist der Moment, wo Mitterrand sich gegen Giscard d'Estaing als Präsident für Frankreich zur Wahl stellt. Und es ist eine Zeit geprägt von Umwälzungen und Verunsicherungen – Thatcher und Reagan, der Kalte Krieg, Anschläge ... Binet spielt ein virtuoses Spiel auf der Klaviatur dieser Zeit. Die Handlung wird von Bayard, einem ruppigen Kommissar, der aber auch gar nichts mit der studentischen Welt oder der Welt der Zeichen und Symbole zu tun hat, getragen. Und vom Doktoranden Simon Herzog, den Bayard als seinen Assistenten zwangsverpflichtet und der ihm helfen soll zu verstehen, mit wem er spricht und wie deren Aussagen zu interpretieren sind. So erhalten auch wir als Leserinnen und Leser eine führende Hand durch das Dickicht der Anspielungen und Zitate. Bayard und Herzog machen sich also auf die Suche nach einem mysteriösen Schriftstück über die siebte Sprachfunktion, das Roland Barthes als er von dem Lieferwagen angefahren worden ist, bei sich gehabt haben soll. Diese Suche führt sie bald einmal auch nach Bologna und Amerika und bringt sie in immer aberwitzigere Situationen und zu vielen amüsanten Begegnungen mit bekannten Gesichtern. 

Der Roman wendet die im Text eine prominente Rolle einnehmende Semiotik an – mithilfe der Zeichen und Symbole schafft er es beispielsweise in äusserst amüsanter Weise die universitären Kreise in Frankreich, Italien und Amerika darzustellen und die teilweise frappanten Unterschiede schön herauszuschälen. Natürlich geistert hier im Hintergrund auch Bourdieus Habitus mit. Aber nicht nur die Szenerie, die ganze Handlung dreht sich um die Semiotik und gipfelt in den Rededuellen einer ominösen Geheimgesellschaft. In der Analyse dieser Redekämpfe erhalten wir eine spannende Einführung in Rhetorik ... Manchmal scheint sie einem Tennisspiel ähnlich, deren damalige Asse – Borg und Connors – uns ebenso durch den Text begleiten. Ist die Politik oder die Macht der Überzeugung also ein Tennisspiel und das Leben ein Roman? 

Die siebte Sprachfunktion wurde bei seinem Erscheinen in Frankreich als der frechste Roman des Jahres bezeichnet. Und frech ist er tatsächlich: kein gutes Haar (oder zumindest nur wenige) wird an den Philosophen und Linguisten gelassen; teilweise nimmt Binet ihre Biographien auf und deutet sie um, teilweise verändert er sie ganz. Und eben – in der Regel treten sie als selbstverliebte, reichlich weggetretene Personen auf. Da darf man nicht zu heikel sein und muss sich Binets Imagination überlassen können. Mir auf jeden Fall hat der Text sehr gut gefallen – witzig und anregend, mitreissend und mit vielen Hinweisen auf die heutige Weltlage. Auch wenn die persönliche Entwicklung der Protagonisten nicht wirklich im Zentrum des Romans steht, sind mir Bayard und Herzog am Ende so richtig ans Herz gewachsen. cn

Klappentext:

Paris, Frühjahr 1980: Nach einem Essen mit dem Kandidaten für das Amt des französischen Präsidenten, François Mitterrand, wird Roland Barthes von einem bulgarischen Wäschelieferanten überfahren. Das Manuskript, das er bei sich trug, verschwindet spurlos. Ein Passant, Michel Foucault, ist Zeuge des Unfalls und behauptet, es war Mord. Der Tod des Autors stellt Kommissar Bayard vor viele Rätsel. Er engagiert einen jungen Sprachwissenschaftler als Assistenten, Simon Herzog. Der im Entschlüsseln von Zeichen geübte Simon wird peu à peu zum heimlichen Helden, stets im Zweifel darüber, ob er das alles wirklich erlebt oder nicht doch nur eine Romanfigur ist ... Bayard und Simon ziehen durch Paris, auf der Suche nach dem Mörder und dem Manuskript, gefolgt von Männern des bulgarischen Geheimdienstes mit vergifteten Regenschirmspitzen, zwei mysteriösen Japanern und einer auffallend hübschen Krankenschwester. Sie geraten in eine mittelalterlich anmutende Geheimgesellschaft. Nach höchst amüsanten Irrwegen zu Umberto Eco nach Bologna, auf den Campus der Cornell University im Staat New York und zuletzt nach Venedig, nach grotesken Gefahren für Leib und Leben und Versuchungen für Anstand und Sitte gelingt es dem Ermittlerduo, dem Geheimnis des Manuskripts auf die Spur zu kommen, der siebten Sprachfunktion.

Ein Buch voller aberwitziger Anspielungen und Parodien auf die französischen Intellektuellen und auf die Drugs-&-Sex-Welt der Nach-Achtundsechziger, voller echter und verfremdeter Zitate, voller Esprit. Ein hochaktueller Roman, nicht zuletzt über die rhetorischen Mittel, mit denen sich Frauen, Männer – und Wahlen – gewinnen lassen.

Über die Autorin / über den Autor:

Laurent Binet wurde 1972 in Paris geboren und hat in Prag Geschichte studiert. Jetzt lebt er in Paris. Sein erster Roman HHhH gewann 2010 den Prix Goncourt du Premier Roman und wurde von der New York Times zu den 100 besten Büchern des Jahres 2012 gewählt. Die siebte Sprachfunktion war in Frankreich ein grosser Bestseller und wurde mit dem Prix Interallié und dem Prix du Roman Fnac ausgezeichnet.

Kristian Wachinger, geboren 1956 in München, gelernter Verlagsbuchhändler, studierte Germanistik und Romanistik in München, Nantes und Hamburg. Er lebt und arbeitet als Lektor und Übersetzer in München.

Preis: CHF 17.90
Sprache: Deutsch (aus dem Französischen von Kristian Wachinger)
Art: Taschenbuch
Erschienen: 2017 (2015)
Verlag: Rowohlt
ISBN: 978-3-499-27221-9
Masse: 524 S.

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