Alexis Jenni

Féroces infirmes

Die "féroces infirmes" kommen in einem Text von Rimbaud vor, wilde, rasende Behinderte: braungebrannt und körperlich gestählt kommen sie aus den heissen Ländern zurück, aber gleichzeitig sind sie tief versehrt und bedürfen der Pflege ihrer Frauen. Woher Rimbaud als Zwanzigjähriger das wissen konnte, fragt sich der Sohn, der seinen behinderten Vater im Rollstuhl herumschiebt. Er kümmert sich rührend um den älteren Herrn, könnte man denken, aber in Wirklichkeit führt er widerwillig eine Bombe spazieren, soviel Wut und Hass ist in Jean-Paul Aerbi, dem Vater, angestaut. 

In die Erzählstimme des Sohnes mischt sich bald jene des Vaters, die den mittleren Teil des Buches für sich alleine beansprucht. Jean-Paul Aerbi, 1940 geboren, wird als Zwanzigjähriger in den Algerienkrieg einberufen. Wie er dort zum Krieger wird, einen fortschreitenden Prozess der Brutalisierung und Entmenschlichung durchläuft, schildert Jenni auf subtile und eindrucksvolle Weise. Man kann die Gewalt besser ertragen, wenn man sich nicht auf die Menschen einlässt, den Kontakt vermeidet, stellt der Vater bald einmal fest. In der Anfangszeit empfindet er noch Scham und Mitgefühl und würde eigentlich lieber zu den mageren Wölfen gehören, die er jagt, als zu den französischen Soldaten, domestizierten Hunden, die ihre Angst abends im Alkohol ertränken. Doch mehr und mehr rechtfertigen Abgrenzung und Rassismus die Gewalt. Als er dann das erste Mal einen Menschen tötet, findet endgültig eine Metamorphose statt. Wie ein Insekt seiner Puppe entschlüpft, lässt er jedes moralische oder empathische Empfinden hinter sich und fühlt sich als neuer Mensch, als starker Mann, der Macht über das Leben anderer hat. 

Als die französische Regierung unter de Gaulle beschliesst, in Unabhängigkeitsverhandlungen mit Algerien zu treten, fühlen sich die Jungs in der Kolonialarmee verraten. Aerbi desertiert und beteiligt sich an Attentaten der französischen Terrororganisation OAS, kehrt dann aber schliesslich in einem mit fliehenden "pieds-noirs" überfüllten Schiff nach Frankreich zurück. Dass sie dort nicht als Helden, sondern als unerwünschte Flüchtlinge empfangen werden, dass alte Freunde ihn meiden und auf seinem Rücken ihre moralische Überlegenheit pflegen, verbittert Aerbi zusätzlich. Obwohl er wieder in seinen ehemaligen Job als technischer Zeichner und Modellbauer bei einem bekannten Architekten einsteigen kann, findet er den Tritt in Frankreich nicht mehr. Er engagiert sich eine Zeit lang in einer paramilitärischen Gruppe, die den alten Zeiten nachtrauert und ein Attentat auf de Gaulle plant. Doch etwas Halt kann ihm einzig seine Frau geben: "Sie darf nicht weggehen, nie, ohne sie würde ich wieder zum Wilden ... würde ich wieder zum Menschenjäger. Ich will das nicht, mit allen meine Kräften will ich das nicht, aber es gibt nur sie, die mich davon abhält." Aimée, eine algerische (?) Ärztin, die er auf dem Schiff kennen gelernt hat, hält die nach aussen intakte Kleinfamilie lange zusammen, aber sie weiss, dass unter dem Beton ein toxisches Feuer lodert. Der Beton steht auch für die riesige Wohnsiedlung für Flüchtlinge aus Algerien, in der sie wohnen. Entworfen wurde sie vom Architekten, bei dem Aerbi arbeitet, einem Schüler Le Corbusiers. Sie symbolisiert in ihrer Modernität und Grandiosität auch die Haltung Frankreichs nach dem Algerienkrieg: Schwamm drüber, nun entsteht etwas Neues, Grosses.

Der Sohn, befreundet mit den algerischen Nachbarn, hält die ewigen hasserfüllten Tiraden des Vaters kaum aus und hofft, dass dieser es nicht mehr allzu lange macht. Seine Frau Ariane, dynamisch, elegant und erfolgreich im Beruf, hat ihn verlassen, weil sie seine Lethargie und Unentschlossenheit nicht mehr aushielt. Denn auch der Sohn ist geprägt von der Geschichte des Vaters, und es gelingt ihm nicht, ein anderes Gegenbild zu dessen Männlichkeit zu schaffen als das der Schwäche und der Unsicherheit. Er ist im Labyrinth gefangen, das sein Vater gebaut hat. Und die Gewalt, so zeigt sich schliesslich, ist auch im Wohnturm drin. Nasser, der scheinbar so angepasste Sohn der algerischen Nachbarn, unterhält im Keller ein Waffenlager.

Keine einfache Lektüre, gewiss, aber ein ungeheuer reiches Buch, psychologisch differenziert, sprachlich brillant und präzise. Es ist der vierte Roman von Alexis Jenni, der 2011 mit L’art français de la guerre den Prix Goncourt gewonnen hat. Elisa Fuchs

Klappentext:

"Jean-Paul Aerbi est mon père. Il a eu vingt ans en 1960, et il est parti en Algérie, envoyé à la guerre comme tous les garçons de son âge. Il avait deux copains, une petite amie, il ne les a jamais revus. Il a rencontré ma mère sur le bateau du retour, chargé de ceux qui fuyaient Alger.

Aujourd'hui, je pousse son fauteuil roulant, et je n'aimerais pas qu'il atteigne quatre-vingts ans. Les gens croient que je m'occupe d'un vieux monsieur, ils ne savent pas quelle bombe je promène parmi eux, ils ne savent pas quelle violence est enfermée dans cet homme-là.

Il construisait des maquettes chez un architecte, des barres et des tours pour l'homme nouveau, dans la France des grands ensembles qui ne voulait se souvenir de rien. Je vis avec lui dans une des cités qu'il a construites, mon ami Rachid habite sur le même palier, nous en parlons souvent, de la guerre et de l'oubli. C'est son fils Nasser qui nous inquiète: il veut ne rien savoir, et ne rien oublier.

Nous n'arrivons pas à en sortir, de cette histoire."

Über die Autorin / über den Autor:

Alexis Jenni, né en 1963 à Lyon est écrivain. Il a enseigné les sciences de la vie et de la terre en lycée, à Lyon. Prix Goncourt 2011 pour son premier roman L'Art français de la guerre (Gallimard), il a publié une dizaine d'ouvrages, notamment Son visage et le tien (Albin Michel, 2014).

Preis: CHF 34.70
Sprache: Französisch
Art: Broschiertes Buch
Erschienen: 2019
Verlag: Gallimard
ISBN: 978-2-07-283433-2
Masse: 320 S.

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