Ivan Jablonka

Laetitia oder das Ende der Mannheit

Laëtitia Perrés, die mit achtzehn Jahren ermordete junge Frau, soll nicht auf ihren Tod reduziert werden. Und auch nicht einfach Politikern oder Medien oder gar dem Mörder selber als Mittel für deren Zwecke dienen. Jablonka will Laëtitia ihre Würde zurückgeben, sie als Menschen begreifen und nicht nur als Opfer einer grauenhaften Mordtat. So pathetisch das zu Beginn tönen mag – am Ende des Buches habe ich atemlose Stunden mit Laëtitia verbracht. Habe sie mir vorgestellt, habe ihre Biographie kennengelernt, ihr Leben, ihre Ambitionen. Im Zentrum des Textes steht tatsächlich Laëtitia, daneben die Beweggründe des Autors, die er transparent macht, ohne sie in den Vordergrund zu stellen. Und er nimmt uns mit in eine Welt der zerrütteten Familien, der Angst, der Gewalt und der staatlichen Fürsorge. Sorgfältig und sensibel beschreibt Jablonka Laëtitias Familie, ihre Zwillingsschwester, ihre Elten, ihre Beziehungen, ihre Konflikte, ihre Ängste. Und zeigt auf, wie sich der Staat um diese Familie kümmert. Welche Strukturen gibt es, welche Philosophie steht dahinter. Welche Verantwortung hat der Staat dabei und nimmt er diese auch wahr?

Es ist ein erschreckendes Porträt, das Jablonka zeichnet, von Familien am Rande einer Gesellschaft, die sich schablonenhaft um sie kümmert. Eine Gesellschaft, die keine Verantwortung übernimmt und insbesondere keine echte menschliche Verantwortung. Wenn Sarkozy die Tragödie für die Verschärfung seiner Sicherheitsgesetze instrumentalisiert, ist das das Gegenteil von dem, was Jablonka im Sinn hat. Er denkt an eine echte Demokratie, die nicht mit Angst und Sicherheit operieren muss, sondern die ihren Mitgliedern ein Gefühl von Aufgehobenheit gibt. Die Aushöhlung des Sozialstaates, auf den auch die streikenden Richter hinwiesen, nachdem Sarkozy ihnen sozusagen die Verantwortung für den Mord an Laëtitia zugeschoben hat, gekoppelt mit der Idee von Sicherheit ist das Gegenteil davon.

Jablonkas Dokufiktion ist aber auch die Suche nach Wahrheit, nach der Wahrheit zu Laëtitias Leben und Tod. "Die Wahrheit über Laëtitias Tod wäre kaum von Bedeutung würde man sie von der Wahrheit über ihr Leben, die Einsamkeit, die sie ertragen musste, die Wege, die sie für sich wählte, und über das Milieu und die Gesellschaft trennen, denen sie angehörte." Entstanden ist eine sensible Würdigung von Laëtitias Leben, Wünschen und Ängsten. cn

Klappentext:

In der Nacht vom 18. auf den 19. Januar 2011 wird Laëtitia Perrais 50 Meter von ihrem Haus entfernt entführt, dann erstochen, erwürgt und zerstückelt. Die Lokalnachricht weitet sich zu einer Staatsaffäre aus: Der damalige Präsident Nicolas Sarkozy benutzt den Fall, um seine Law-and-Order-Politik durchzusetzen. 8000 Juristen gehen auf die Strasse. Und auch die Medien instrumentalisieren Laëtitias Tod für ihre Zwecke. Ivan Jablonka nähert sich der Nachricht wie einem historischen Gegenstand und Laëtitias Leben als einer sozialen Tatsache: Ihre Biografie lässt den Zustand einer Gesellschaft erkennen, in der Jahre der Sparmassnahmen die Sozialsysteme geschwächt haben und Gewalt gegen Frauen zum Alltag gehört. Doch wer war Laëtitia? Wie kann man ihre Geschichte erzählen, ohne sie von ihrem Ende her aufzurollen? Gegen alle Erzählungen, die den Täter zum Gegenstand haben, möchte Ivan Jablonka Laëtitia ihre Würde zurückgeben. Er trifft Familienangehörige, Freunde und Protagonisten der Ermittlung und wohnt 2015 dem Prozess des Mörders bei. Zusammen mit den Aussagen der befragten Zeugen entsteht eine sensible, vielstimmige Erzählung über das Leben eines vernachlässigten Mädchens in einem "Wohlfahrtsstaat".

"Eines der besten Beispiele dafür, was aus der Auflösung der Grenzen der Literatur entstehen kann, ist für mich das Buch Laëtitia ou la fin des hommes von Ivan Jablonka, das die Grenzen zwischen Geschichtsschreibung, Soziologie, Reportage und Literatur ins Wanken bringt und mit seinem Rhythmus und seiner Sprache einen unwiderstehlichen Sog entwickelt." Annie Ernaux, Le Monde

Über die Autorin / über den Autor:

Ivan Jablonka, 1973 geboren, ist Professor für Geschichtswissenschaft an der Universität Paris XIII, Chefredakteur der Zeitschrift laviedesidees.fr und Mitherausgeber der Reihe "La République des idées" beim Verlag Éditions du Seuil, Paris. Für Laëtitia oder das Ende der Mannheit erhielt er den Prix Médicis und den Prix littéraire Le Monde.

Claudia Hamm, 1969 geboren, ist Theaterregisseurin, Autorin und Übersetzerin u.a. von Emmanuel Carrère, Mathias Énard, Édouard Levé und Nathalie Quintane. Für ihre Übersetzung von Carrères Roman Das Reich Gottes wurde sie 2016 für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse nominiert und erhielt den Übersetzerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft.

Preis: CHF 34.80
Sprache: Deutsch (aus dem Französischen von Claudia Hamm)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2019 (2016)
Verlag: Matthes & Seitz
ISBN: 978-3-95757-699-6
Masse: 388 S.

zurück