Valérie Perrin

Les oubliés du dimanche

Justine, die Erzählerin der Lebensgeschichte dreier Familien, ist einundzwanzig Jahre alt. Sie lebt zusammen mit ihren Grosseltern und einem Cousin in einem französischen Dorf namens Milly. Seit Justine die obligatorische Schulzeit beendet hat, arbeitet sie als Hilfspflegerin im Altenheim Hortensias. Sie berichtet von sich selbst, dass sie zwei Dinge liebt im Leben: die alten Leute und die U-Musik.

Na ja, denkt sich vielleicht die Leserin oder der Leser zu Beginn der Lektüre. Kann aus diesen Prämissen eine interessante Geschichte werden? Die Erzählung nimmt jedoch bald Fahrt auf und springt vom scheinbar Trivialen zu einer feinfühligen Auseinandersetzung mit den elementaren Dingen des Lebens. Hélène, eine Heimbewohnerin, übt eine grosse Anziehungskraft auf Justine aus. Ihretwegen kauft sich die junge Frau ein blaues Notizheft. Je suis allée acheter un cahier chez le Père Prost. J'en ai choisi un bleu. Dies der erste Satz des Romans. Das blaue Heft – die Farbe ist nicht zufällig gewählt – enthält die in alle Richtungen und Epochen ausschweifenden Lebens- und Liebesgeschichten der Hauptfiguren des Romans. Der Zeitstrang beginnt im Jahre 1911 und reicht bis ins Heute. Am Anfang und am Ende der Geschichte steht ein Paar tiefblauer Augen.

Das Buch ist vielschichtig angelegt, was für mich eine eigene Faszination ausmacht. Es ist Liebesroman, Zeitdokument, Kriminalroman und Entwicklungsroman zugleich. Die im blauen Heft von Justine aufgezeichnete Liebesgeschichte von Hélène und Lucien führt uns nicht nur in die Anfänge des zwanzigsten Jahrhunderts, sondern auch in die Zeit des Zweiten Weltkrieges und in die Jahre danach. Hélène lebt mit Lucien in Milly. Zusammen betreiben sie das einzige Café-Restaurant des Dorfes. Nach dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich wird auch das kleine Dorf besetzt. Verunsicherung und Angst vor der Deportation sind allgegenwärtig. Lucien ist ein erstes Opfer. Jahrzehntelang wartet Hélène auf die Rückkehr ihres Liebsten. Justine beschränkt sich in ihren Aufzeichnungen jedoch nicht auf die Erzählung dieser grossen Liebe. Sie hat auch ein Gespür für die sozioökonomischen Veränderungen, die sich in ihrem Dorf abspielen. Sie beschreibt, wie in den sechziger Jahren eine gewisse Leichtigkeit des Seins in diesen provinziellen Flecken Einzug hält. Der junge Gehilfe Claude, den Hélène nach dem Krieg zur Aufrechterhaltung des Restaurationsbetriebs einstellt, schafft eine glitzernde Kaffeemaschine und eine bunte Jukebox an. Die Klientel der Nachkriegszeit besteht nicht mehr vorwiegend aus Bauern, sondern immer mehr aus Arbeitern aus der im Dorf neu erbauten Textilfabrik. So werden die weiteren Liebesgeschichten, jene ihrer Eltern und die eigene, in eine sich verändernde Gesellschaftsstruktur eingebettet. Für den Leser eine spannende Lektüre, da durch diese Beschreibungen die Persönlichkeit der Erzählerin an Kontur gewinnt und ihr provinzielles Dasein in diesem Dorf mit seiner einzigen Einkaufsstrasse und den schmucken Einfamilienhäusern der neunziger Jahre fassbar wird. Justine ist fasziniert von den Geschichten der alten Leute, die sie pflegt. Während der Niederschrift dieser Erzählungen überkommt sie der Drang, auch über sich und ihre eigene Familie mehr Klarheit zu erhalten. Das blaue Heft füllt sich zusehends mit Fragen und Beobachtungen über das eigene Leben. Dabei steht ein Ereignis im Zentrum: Weshalb kam es am 6. Oktober 1996 zu dem Autounfall, bei dem ihr Vater und ihr Onkel zusammen mit ihren Ehefrauen starben. Gibt es ein Geheimnis in der Familiengeschichte?

Nicht nur die Antwort auf diese Frage fesselt den Leser oder die Leserin. Es ist auch der Stil, in dem die Schriftstellerin Valérie Perrin ihre Protagonistin Justine zu Wort kommen lässt. Unverkrampft und mit jugendlicher Unbekümmertheit erzählt Justine von Kernfragen des Lebens. Man wird unweigerlich hineingezogen in einen Strudel an Beobachtungen eines kleinbürgerlichen Alltags mit tragischen Dimensionen.

Ich habe den Roman gerne gelesen. Es ist ein Buch gegen das Vergessen, ein Lob der Erinnerung und eine zarte Liebeserklärung an die Alten und Verstorbenen. Einer davon ist Lucien, der Mann mit den tiefblauen Augen. Angela Willimann

Klappentext:

Justine, vingt et un ans, vit chez ses grands-parents avec son cousin Jules depuis la mort de leurs parents respectifs dans un accident. Justine est aide-soignante aux Hortensias, une maison de retraite, et aime par-dessus tout les personnes âgées. Notamment Hélène, centenaire, qui a toujours rêvé d'apprendre à lire. Les deux femmes se lient d'amitié, s'écoutent, se révèlent l'une à l'autre. Grâce à la résidente, Justine va peu à peu affronter les secrets de sa propre histoire. Un jour, un mystérieux "corbeau" sème le trouble dans la maison de retraite et fait une terrible révélation.
À la fois drôle et mélancolique, un roman d'amours passées, présentes, inavouées ... éblouissantes.

Über die Autorin / über den Autor:

Photographe et scénariste, Valérie Perrin travaille aux côtés de Claude Lelouch. Son premier roman Les oubliés du dimanche, a reçu de nombreux prix, dont celui de Lions de littérature 2016, le prix Chronos 2016, Lire Élire 2016 et de Poulet-Malassis 2016.

Preis: CHF 15.70
Sprache: Französisch
Art: Taschenbuch
Erschienen: 2017
Verlag: Le livre de poche
ISBN: 978-2-253-07116-7
Masse: 410 S.

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