Lisa Fittko

Mein Weg über die Pyrenäen

Sie wurde in Deutschland verfolgt, in Frankreich in ein Lager gesteckt, entkam und half ihrerseits Flüchtlingen über die Grenze nach Spanien: diese dramatische Zeit ihres Lebens erzählt Lisa Fittko fadengerade und ohne Bitterkeit, lässt so den Lesenden Raum für eigene Emotionen. Und die kochen hoch und nicht zu knapp: es wird einem heiss und kalt beim Lesen.

Der Titel, vermutlich vom Verlag gesetzt, fokussiert auf die Monate, als Lisa und ihr Mann Hans Fittko in Südfrankreich Menschen über die Pyrenäen an die spanische Grenze brachten, aber eigentlich sind Lisas Erlebnisse davor noch einschneidender. 1940 befindet sie sich in Paris, als die Deutschen das Land besetzen. Frankreich interniert alle Deutschen im Alter zwischen 17 und 55 Jahren. Über hundert Internierungslager soll es gegeben haben. Lisa Fittko kam nach Gurs, einem der berüchtigtsten Frauenlager, wo es ausser  Stacheldraht und in den Baracken "nichts als nackten Lehmboden" (Fittko) gab. Dafür Wanzen zuhauf. Das Essen: kieselsteinharte Kichererbsen. Täglich. Wahllos waren Widerstandskämpferinnen und Hitler-Anhängerinnen, Nazi-Agentinnen und von Nazis verfolgte Jüdinnen zusammengesteckt worden, unter ihnen Hannah Arendt und Marta Feuchtwanger. Ironie der Geschichte: Lisa Fittko war eigentlich staatenlos, denn die Nazis hatten ihr die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen. Das kümmerte die Franzosen nicht; für sie war sie dennoch eine "sale boche".

Als die deutschen Truppen gen Süden vorrückten, wurden die französischen Wachen nachlässiger. Lisa und anderen Frauen gelang die Flucht. Sie nutzte das  totale Durcheinander und schaffte es auf vielen Umwegen, zwischen deutschen Panzern und französischen Offizieren hindurch, nach Marseille, wo sie ihren Mann Hans wiedersah. In der Hafenstadt schlossen sich die beiden den Fluchthelfern an, kooperierten mit dem US-amerikanischen Emergency Rescue Committee (von Thomas und Erika Mann initiiert) und nahmen die Schleusertätigkeit auf. Über hundert Menschen führten sie über die Berge an die spanische Grenze. Einer ihrer ersten Schützlinge war der deutsche Philosoph Walter Benjamin (der im Grenzstädtchen Portbou einen Tag nach Ankunft zu Tode kommt, ungewiss, ob durch eigene Hand, Erschöpfung oder aus einem anderen Grund). Noch eindrücklicher als ihre klandestinen Fluchtmärsche und nicht weniger heroisch sind die unzähligen Gänge zu den Ämtern, Institutionen, Entscheidungsträgern, dieses Bitten und Betteln um Passierscheine und andere Dokumente, ohne die man sich nicht bewegen, nicht bleiben, nicht ausreisen konnte. Welche Papiere nötig waren und gerade nicht mehr galten, änderte praktisch täglich. Dieses enervierende, gefährliche Klinkenputzen, das wird hier bewusst, ist ebenfalls eindrücklichste Widerstandsarbeit. Lisa Fittko muss geschickt gewesen sein. Auf den Fotos im Buch sieht man eine sehr attraktive junge Frau: das könnte da und dort geholfen haben.

Die Fittkos selber konnten 1941 nach Kuba ausreisen. Ihr Mann Hans erlernte die Diamantschleiferei. Lisa zog eines Tages weiter nach Michigan, USA, wo sie viele Jahre später von ihrer jüngsten Nichte Marlene gebeten wurde: "Tell me what it felt like". Und so erzählte sie das vorliegende Buch, das mit einer Zeittafel, Informationen zur Internierungspraxis in Frankreich und dem weiteren Schicksal der verfolgten Personen ergänzt ist. Maya Doetzkies

Klappentext:

In einigen Exil-Erinnerungen ist, wenn es um einen Pyrenäen-Fluchtweg aus dem besetzten Frankreich ging, von einer "F-Route" die Rede – wer oder was sich hinter dem F verbirgt, wird nicht erklärt. Das vorliegende Buch löst dieses Rätsel: Der alte Schmugglerpfad wurde nach Lisa und Hans Fittko benannt, die monatelang von der Auslieferung bedrohte Hitlergegner zur spanischen Grenze geführt hatten. Es wäre nicht geschrieben worden, wenn nicht durch einen Zufall Gershom Scholem von Lisa Fittko gehört und sie gedrängt hätte, ihre Pyrenäenüberquerung mit Walter Benjamin (der sich dann, seine Verhaftung befürchtend, nach dem Grenzübertritt in Spanien das Leben nahm) aufzuschreiben.

Die "F-Route" ist für die Fittkos nur eine Station einer langen Odyssee, die 1933 in Berlin begann und sie über Prag, Zürich und Amsterdam nach Paris führte. 1940 wurde Lisa Fittko als "feindliche Ausländerin" in dem berüchtigten Frauenlager von Gurs interniert. Sie entkam nach Marseille und stiess dort auf Varian Fry und das Emergency Rescue Commitee, das – meist illegal – organisierte Fluchthilfe betrieb. An seinen Hilfsaktionen hatten die Fittkos massgeblichen Anteil. Der Strom der Flüchtlinge riss nicht ab; sie machten den gefährlichen Weg über die Pyrenäen bis zu dreimal in der Woche.

Über die Autorin / über den Autor:

Lisa Fittko wurde 1909 in Uzhorod in der heutigen Sowjetunion geboren. 1933 musste sie wegen ihrer politischen Arbeit Deutschland verlassen. Im Exil unterstützten sie und ihr Mann, Hans Fittko, aktiv den Widerstand gegen Hitler. Ende 1941 gelang ihnen die Flucht nach Kuba und von dort 1948 die Einreise in die USA. Sie starb am 12. März 2005 in Chicago, wo sie lange lebte und sich für die Friedensbewegung engagierte.

Preis: CHF 14.50
Sprache: Deutsch
Art: Taschenbuch
Erschienen: 2004
Verlag: dtv
ISBN: 978-3-423-62189-2
Masse: 336 S.

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