Mathias Enard

Tanz des Verrats

Zwei völlig verschiedene Handlungsstränge, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, laufen in diesem Roman lange nebeneinander her. Doch ganz allmählich und rational kaum zu erklären, entstehen im Kopf der/des Lesenden fast intuitive Verbindungen, und sei es nur, weil man fasziniert ist über die Unterschiedlichkeit nicht nur der Handlung, sondern auch der Sprache und sich unwillkürlich Fragen einstellen, die nachwirken.

Da ist einerseits der internationale Kongress zu Ehren des fiktiven verstorbenen deutschen Mathematikers Paul Heubeder. Auf Wunsch von Maja Harnhorst, seiner lebenslangen grossen Liebe, trifft sich die akademische Festgesellschaft auf einem kleinen Kreuzfahrtschiff, das auf Havel und Spree in Berlin und Umgebung rumschippert. Die nostalgische Zusammenkunft wird jäh unterbrochen vom Weltgeschehen: Es ist der 11. September 2001. Die Erzählerin ist Irina, Historikerin und Tochter von Paul und Maja, die zwanzig Jahre später, als sie selber schon 70 ist, endlich auch die eigene Familiengeschichte zum Thema machen will.

Alternierend dazu stehen die Kapitel über einen anonymen Soldaten, der desertiert ist aus einem namenlosen Krieg. Oben in den Bergen, weit weg von den Dörfern, ist er zu Fuss unterwegs – denn niemand wird einem Deserteur helfen –, dreckstarrend, stinkend und "hungrig bis zu den Haarwurzeln". Sein erstes Ziel ist es, die Hütte hoch oberhalb seines Heimatdorfes zu erreichen, wo er als Kind viele Sommertage mit seinem Vater verbracht hatte. Er erinnert sich an den riesigen Zitronenbaum, den schon sein Grossvater gepflanzt hatte, an den Orangenbaum, aus dessen Blüten Hochzeitskränze gewunden wurden. Doch die Erinnerungen sind nicht einfach idyllisch. Der Vater war ein Schläger, die gleiche Wucht, mit der er die gewilderten Forellen gegen den Baum schlug, um sie zu töten, traf auch das Kind. Es ist der Krieg, aber vielleicht nicht nur der Krieg, der aus dem Jungen einen gefühllosen und gewalttätigen Kerl gemacht hat.

Die Beziehung zwischen Maja und Paul ist eine aussergewöhnliche, lebenslange Liebesgeschichte. Kennengelernt haben sie sich schon vor dem Zweiten Weltkrieg, als insbesondere Maja in der antifaschistischen Bewegung engagiert war. Während sie den ganzen Krieg über im Untergrund in Belgien tätig war, wurde Paul festgenommen und kam erst ins Internierungslager Gurs in Frankreich, später ins KZ Buchenwald. Er überlebte, vielleicht auch dadurch, dass er eine mathematische Abhandlung, durchsetzt mit der poetischen Verarbeitung seiner Erlebnisse, schrieb, die ihn später berühmt machen sollte. Nach dem Krieg lebt und arbeitet er als Mathematiker in Ostberlin und ist ein geschätzter und absolut loyaler Staatsbürger. Maja hingegen verlässt die DDR mit der damals zweijährigen Irina schon 1953 und macht in Westdeutschland eine steile Politkarriere in der sozialdemokratischen Partei. Die beiden sehen sich selten, schreiben sich aber fast jeden Tag – wobei Irina nur die Briefe Pauls kennt und sie auch hin und wieder in die Erzählung einfügt. Es sind Zeugnisse einer zärtlichen, grenzenlosen Liebe. Paul respektierte Majas grosses Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Und doch hat er vermutlich Selbstmord begangen, in seinen Ferien am Meer, zehn Jahre vor dem Kongress.

Von einer Liebesgeschichte im andern Teil des Buches zu sprechen, wäre eher verwegen. Aber die Begegnung mit einem Mädchen, das, im Dorf wegen einer Beziehung zum "Feind" an den Pranger gestellt und kahlgeschoren, mit ihrem Esel über die Berge flüchten will, ermöglicht dem Soldaten, ein Stück Menschlichkeit wiederzufinden. Mehrmals hindert ihn ein unerklärliches Zögern daran, sie umzubringen und schliesslich pflegt er die vom Blitz Getroffene wieder gesund, obwohl sie ihm auf der Flucht eine Last ist.

Während Irina in einem persönlichen Stil, aber doch auch mit der Distanz einer Intellektuellen, die vielfältige Bezüge zum Zeitgeschehen herstellen kann, über ihre Eltern berichtet, ist die Erzählung über den Soldaten von grosser sinnliche Kraft. Da werden detailliert die nach Scheisse stinkenden Schuhe beschrieben oder der herbe Geschmack der Kräuter, die der Soldat in Ermangelung anderer Esswaren kaut. Die Sätze gehen ineinander über wie die Gedanken, wobei der Soldat abwechselnd mit "er" beschrieben oder mit "du" sozusagen direkt angesprochen wird. Wo sich die beiden Erzählstränge unter anderem treffen, ist bei der Schilderung dessen, was der Krieg mit den Menschen macht, der Krieg, der Gewalt und Verrat hervorbringt, aus denen wieder herauszufinden immense Anstrengungen verlangt. Elisa Fuchs

Klappentext:

September 2001, ein Kongress auf der Havel. Gewürdigt wird Paul Heudeber, Mathematiker, Kommunist und KZ-Überlebender, der spätestens seit seinem ungeklärten Tod Heiligenstatus geniesst. Alle Blicke der Anwesenden wandern verstohlen zu Maja Scharnhorst, Pauls grosse Liebe, mit 83 faszinierend wie eh und je, auch sie eine Legende, die sich irgendwann für eine Karriere im Westen entschieden hat – ohne Paul. Als die Bilder der zerstörten Twin Towers die Festgesellschaft erreichen, nimmt die Veranstaltung eine ganz andere Wendung. Und es ist an Irina, der Tochter dieser überlebensgrossen Liebenden, die losen Fäden ihrer Geschichte zu entwirren und neu zu verflechten.

Ein grosser Roman über Widerstand, Liebe, Verrat und den Trost mathematischer Schönheit in einer von Gewalt erschütterten Welt.

Über die Autorin / über den Autor:

Mathias Enard, 1972 geboren, lebt in Barcelona und Niort. Für den Roman Kompass erhielt er den Prix Goncourt, 2017 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. 2021 erschien sein Roman Das Jahresbankett der Totengräber und zuletzt Der perfekte Schuss (2023).

Preis: CHF 34.50
Sprache: Deutsch (aus dem Französischen von Holger Fock, Sabine Müller)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2024 (2023)
Verlag: Hanser
ISBN: 978-3-446-27956-8
Masse: 253 S.

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