Rebecca Gisler

Vom Onkel

Die Erzählerin und ihr Bruder sind mit ihrem Onkel zusammen zu einer zufälligen Wohngemeinschaft in der Bretagne geworden. In einem langsam zerfallenden Haus, in dem der Onkel viele Jahre mit seinen Eltern verbracht hat. Der Onkel – ein grosses Kind, steckengeblieben in den Abenteuern der Kindheit, in einem Mangel an Hygiene, in einer Ansammlung von Manien – ist das Objekt der Beobachtung. Alles an ihm wird minutiös beschrieben, welche Dinge er sich im Supermarkt kauft, wie seine nächtlichen Toilettenbesuche vor sich gehen, wie er sich in dem viel zu kleinen Bad rasiert, welche Spuren er seinem Neffen und seiner Nichte hinterlässt. Trotz einiger nicht sehr appetitlicher Beschreibungen erhält der Onkel einen ganz eigenen Charme, trotz seines Daseins in einem vor Schmutz starrenden und mit unnützen Spielzeugen gefüllten Zimmer, trotz seiner Übertreibungen, seiner Desinteressiertheit an der Schönheit der Landschaften oder seiner Vorliebe für fettige Wurstbrote und Cola. Langsam lernt man ihn kennen, kann ihn sich mit seinem dicken Bauch auf kurzen Beinen vorstellen, erahnt seine Leidenschaften. Es ist keine kalte, sezierende Beschreibung, sondern eine nahe und warme Beobachtung, die einen Menschen auch aus einzeln genommen unschönen Teilen zu einem lebendigen Ganzen zusammenwachsen lässt.

Eigentlich ergeht es allen Personen, die in diesem Roman auftreten, ähnlich unter dem Blick der Autorin. Der Mutter, also der Schwester des Onkels, die aus der Schweiz zu Besuch kommt, den verstorbenen Grosseltern, den Verkäuferinnen im Supermarkt und den drei Erwans, die zusammen mit dem Onkel in der Klosterabtei arbeiten. Wunderlich sind die Menschen, wunderlich ist das Leben, das sie führen. Selbst die Erzählerin und ihr Bruder machen da keine Ausnahme. So wie sie ihren Onkel beobachtet und beschreibt, so beschreibt die Erzählerin zwischendurch auch ihren Brunder und sich selbst. Beide leiden unter einer Hautkrankheit, die sie zu häufigem Kratzen treibt. Und wie die beiden vor einem Tourismusfilm über die Schweiz sitzen und sich von oben bis unten kratzen – das ist eine Szene, die mir wohl lange im Gedächtnis bleibt. Ein Bild, das zwischen Lachen und dem Abgrund steckenbleibt, aber voller Zuneigung. Sehr lesenswert! cn

Klappentext:

Früher, wenn der Onkel Indianerschmuck und Piratenschwerter gebastelt hatte, waren sie wie drei Kinder, hier im Garten, den ganzen Sommer lang. Jetzt pfeift der Onkel aus allen Löchern, obwohl er erst 52 ist, und Nichte und Neffe haben kurzerhand beschlossen, in das weisse Haus mit den blauen Läden zu ziehen. Eine WG in der Bretagne, am Ende der Welt. Der Onkel badet nie, mit der Metallplatte in seiner Hüfte schafft er es nicht mehr über die Felsen ans Meer. Höchstens fährt er mit dem Roller zum Supermarkt, wo es Wurst und Cola gibt. Aber am liebsten bleibt er in seinem Zimmer – Betreten verboten! – und schaut fern, auch wenn die Antenne vom Dach gekommen ist. Während der Bruder sich die meiste Zeit den Blattläusen an den vier frisch gepflanzten Obstbäumen widmet, beginnt die Schwester, den Onkel zu umkreisen, erkundet seine in dreissig Jahren Alleinleben entwickelten Eigenarten. Nach und nach breitet sich eine etwas ungemütliche Familienlandschaft aus, in der ein Wohnblock in einem Pariser Vorort und ein Haus am Hang in der Schweiz geografische Fixpunkte sind und wo, wie es sich fast nebenbei erzählt, einen Bruder zu haben ein einziger Segen war.

Ein skurriles, tief berührendes Debüt, das mit rhythmischen langen Sätzen in Atem hält. – Preisgekrönt!

Über die Autorin / über den Autor:

Rebecca Gisler, geboren 1991 in Zürich, studierte von 2011 bis 2014 am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und absolvierte anschliessend den Master-Studiengang Création littéraire an der Universität Paris 8. Der vorliegende Roman, den sie auf Französisch und auf Deutsch verfasst hat, ist ihr Debüt. In Frankreich 2021 unter dem Titel D'oncle erschienen, wurde es für mehrere Preise nominiert und mit einem Schweizer Literaturpreis 2022 ausgezeichnet. Mit einem Auszug aus der deutschen Fassung gewann die Autorin 2020 ein Open Mike in Berlin. Rebecca Gisler lebt in Zürich und Paris.

Preis: CHF 30.00
Sprache: Deutsch
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2022
Verlag: Atlantis
ISBN: 978-3-7152-5003-8
Masse: 137 S.

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