Anna Maria Ortese

Der Hafen von Toledo

Die Ich-Erzählerin, mal Damasa, mal Dasa genannt, die sich selber gerne Toledana nennt, erinnert sich an ihre Jugendjahre im Armutsviertel der Hafenstadt Toledo in den 1930er-Jahre. Mit dieser Angabe sorgt Anna Maria Ortese bereits für die erste Irritation, der noch zahlreiche andere folgen werden. Das spanische Toledo liegt nämlich nicht am Meer, sondern im Landesinneren von Spanien. Zudem versteckt sich hinter Toledo Neapel, wie sich hinter der Toledana mit grosser Wahrscheinlichkeit Anna Maria Ortese vermuten lässt. Auch sie hatte als junges Mädchen schon geschrieben und viel gelesen. Auch sie ist in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und hat ihren älteren Bruder verloren. Überzeugend und bezaubernd ist, wie Anna Maria Ortese die Kunst und nicht den Weg der Autobiografie wählte, um sich der Wahrheit anzunähern. Die Verschachtelung und Verkleidung als Praxis, um politische und gesellschaftliche Beweggründe herauszuschälen, ist konsequent angewendet und erhellt gekonnt dieses Dunkel, in dem diese Menschen in Armut und Einsamkeit leben.

So macht Der Hafen von Toledo die schmerzhafte Lebenswirklichkeit mittelloser Menschen wahrhaftig und in bestechenden Bildern ihre Seelenwelt erfahrbar. Ihr Ausgeschlossensein wird ungeschminkt gezeigt, gerade durch die Verschiebungen, die Anna Maria Ortese vornimmt. Die Handlung wird regelmässig unterbrochen, indem Texte, die Anna Maria Ortese tatsächlich in den 30er-Jahren geschrieben hatte, einfügt. Sie bezeichnet diese Texte selber zum Beispiel als schulmässige Prosa oder rhythmische Kompositionen. Sie schiebt auch Lyrik dazwischen. So entsteht keine wirklich erfassbare Chronologie der Ereignisse. Was hingegen kontinuierlich am Himmel droht, ist ein aufziehender Taifun, ein Sinnbild für den drohenden Krieg.

Das Werk wird vom Vorwort von Tiziano Gianotti und einer Notiz von Anna Maria Ortese eingebettet und erläutert. Erinnerungen an ein unwirkliches Leben wie Anna Maria Ortese ihren Roman Der Hafen von Toledo im Untertitel beschreibt, ist eine Herausforderung, der zu stellen sich auf alle Fälle lohnt! Ein bemerkenswertes Werk! ap

Klappentext:

Die dreizehnjährige Damasa und ihre Geschwister leben in einem heruntergekommenen Haus im düsteren Hafenviertel von Toledo. Ihre vermeintliche Teilnahmslosigkeit verschleiert die glühende und rebellische Natur des Mädchens, das mit zehn Jahren den Schulunterricht ablehnt, sich von der Kirche abwendet und nach dem tragischen Tod seines Bruders auf See Rettung in der Literatur findet. Die dunklen Schriften Damasas, in denen sie versucht, die flüchtigen Visionen ihres Geistes festzuhalten, ziehen uns in eine fesselnde Welt des Unsichtbaren und der Träume, eine »zweite, unwirkliche Realität«. Aus dem Geheimnis dieser wundersam lyrischen Seiten entspringt ein Alltag voller Armut und Entbehrungen, während sich am Himmel das Schreckensgespenst des Krieges abzeichnet.

In Der Hafen von Toledo webt Anna Maria Ortese eine eindringlich dichte, traumwandlerische Atmosphäre, die den Roman zu einem unvergesslichen Leseerlebnis macht. 1975 erstmals veröffentlicht, ist das rätselhafte und von einer geheimnisvollen Schönheit erfüllte Buch heute ein Klassiker der modernen Literatur – ein Meisterwerk, das es auch hierzulande unbedingt zu entdecken gilt.

Mit Vorwort von Tiziano Gianotti

Über die Autorin / über den Autor:

Anna Maria Ortese (1914-1998) stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Sie verließ mit fünfzehn Jahren die Schule, entwickelte danach aus eigener Kraft ihr großes literarischen Talent; als Zwanzigjährige veröffentlichte sie ihre ersten Texte. Ihr Werk wurde früh mit literarischen Preisen ausgezeichnet, größere Bekanntheit erreichte sie erst im letzten Jahrzehnt ihres Lebens.

Preis: CHF 41.90
Sprache: Deutsch (aus dem Italienischen von Marianne Schneider)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2023
Verlag: Friedenauer Presse
ISBN: 978-3-7518-0636-7
Masse: 729 S.

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