Maurizio de Giovanni

Die Versuchung des Commissario Ricciardi

Neapel im Frühling 1932. Unter die eleganten Familien des Adels und Halbadels und die Spaziergänger aus dem Bürgertum mischen sich in den mondänen Kaffees und den von edlen Schaufenstern und barocken Kirchen und Palästen gesäumten Strassen der reichen Quartiere lässig und provokant junge Schwarzhemden. Sie werden immer mehr, und sie fühlen sich geachtet und wohl in dieser Stadt des Südens, wo unter den Hungerleidern die meisten weniger revolutionär gestimmt sind als die streitenden Genossen in den Fabriken des Nordens. Der Neapolitaner aus dem "Volk" geht seinem Handwerk nach, verkauft und kauft auf der Strasse und in schattigen, höhlenartigen Läden Gemüse, Früchte, Fisch, trägt allerlei Krimskrams von einem Ende der Stadt ins andere, pfeift dabei den Frauen mit ihren wogenden Körpern nach. Ein neuer Frühling hat begonnen. In den Strassen duftet es nach Kaffee und gebratenen Sardinen, nach frischen und verwelkten Blumen, nach dem Parfüm reicher Frauen und dem Schweiss der Lastenträger. Noch ist Neapel nicht voll erblüht und dem Frühling hold, denn ab und zu gibt es Regentage, das zärtliche Sonnenlicht weicht dann einem blassen Grau.

Es ist die Karwoche. Alle freuen sich auf Ostern, und die Neapolitaner befolgen mit Hingebung die verlangten Rituale der Kirche und der Tradition. In den Küchen bereiten Ehefrauen, Mütter und Tanten, offizielle und heimliche Geliebte die Ostergerichte vor, die ihre Männer betören sollen. In diese Stimmung – wie sie der Autor Maurizio de Giovanni sinnlich beschreibt – platzt die Nachricht in den Alltag des Kommissars Ricciardi, dass Vipera, die Edelprostituierte aus dem Bordell "Paradiso", tot aufgefunden worden ist. Jemand hat sie in ihrem Boudoir mit einem Kissen erstickt. Sie war ausserordentlich schön und bei der Kundschaft sehr begehrt. 

Ich werde natürlich nichts von der klugen und spannenden Wahrheitsfindung des Kommissars verraten. Gesagt soll jedoch Folgendes sein: Ricciardi ist für mich eine faszinierende Romanfigur. Er ist mit einem Geheimnis ausgestattet, das bewirkt, dass er der Melancholie anheim fällt und niemanden richtig lieben kann. Mit der Nachbarin Enrica, die in ihn verliebt ist, wechselt er nur scheue Blicke aus dem Fenster, und mit der reichen, wunderschönen Lydia, einer ehemaligen Opernsängerin und Witwe eines bekannten Tenors, verbindet ihn eine Leidenschaft, die er aber nicht auszuleben wagt. Er lebt mit seinem alten Kindermädchen in einer grossbürgerlichen Wohnung. Als Abkömmling einer aristokratischen Familie mit Grossgrundbesitz im Süden Neapels verlässt er nach dem Tod seiner Eltern die väterliche Villa. In Neapel studiert er Jurisprudenz und nimmt danach die Arbeit als Kommissar bei der Kriminalpolizei an. Seine kriminalistische Taktik, die ihm Maurizio de Giovanni angedichtet hat, besteht darin, dass er ausgehend von den letzten vom Opfer gesagten oder vom Kommissar selbst so phantasierten Worten auf die Fährte des Mörders kommt. Der Anblick der Toten und die Vorstellung ihrer letzten Lebensminuten verfolgen den Kommissar jeweils noch tagelang. Deshalb auch seine Traurigkeit und seine pessimistische Haltung gegenüber dem Leben.

Bei seinen Fällen begleiten ihn der Wachmeister Raffaele Maione, der mit Frau und Kindern im volksnahen Quartier Spagnoli lebt. Dank Maione bekommt der Leser Einblick in die Familienverhältnisse neapolitanischer Ehepaare. "Fame e amore", Hunger und Liebe, sind die Koordinaten dieser Welt. Im negativen Sinn sind sie auch die Ursache für die tödlichen Handlungen der Täter, die der Commissario am Ende jeder Geschichte überführen kann. Eine weitere Figur in diesem Neapel-Zyklus ist der Gerichtsarzt Bruno Modo, ein ruhiger, besonnener und sympathischer Mann. Er ist ein Antifaschist der ersten Stunde. Durch ihn erhält die Kriminalgeschichte auch eine historische Note. Hochrangige und untergebene Faschisten tummeln sich in den geschilderten Milieus der Stadt: in Kaffeehäusern, Ämtern, Bordellen und Folterzellen. Zudem ist der Transvestit Bambinella komplizenhaft mit Ricciardi verbunden und verschafft diesem Zugang zum kriminellen Ambiente der Drogendealer und Glücksspieler.

Auf der Suche nach dem Mörder oder der Mörderin gelangt der Leser zusammen mit Ricciardi in die verschiedenen Lebenswelten der Haupt- und Nebenfiguren. Ein Kaleidoskop an sinnlichen Eindrücken verzaubert den Leser. Man möchte am liebsten gleich in den nächsten Zug nach Neapel steigen. Angela Willimann

Klappentext:

Commissario Ricciardi ist ein Ermittler mit einer besonderen Fähigkeit. Der intelligente, melancholische Einzelgänger aus reichem Elternhaus besitzt eine Gabe, die sein Schicksal bestimmt: er hört die letzten Gedanken von Ermordeten, sieht sie gefangen im Augenblick ihres Todes.

Neapel, kurz vor Ostern. In einem Luxusbordell wird die schönste und berühmteste Prostituierte der Stadt ermordet aufgefunden, offensichtlich mithilfe eines Kissens erstickt: Vipera, mit bürgerlichem Namen Maria Rosaria Cennamo. Die Spur führt den charismatischen Commissario schnell zu den beiden Stammkunden der Prostituierten – doch sie scheinen nicht die einzigen Verdächtigen zu sein ...

Wieder ein schwieriger Fall für den Commissario – zumal auch privat alles recht kompliziert ist: er ist hin- und hergerissen zwischen der schüchternen Enrica, die immer noch darauf hofft, Ricciardis Herz endlich für sich zu gewinnen, und der mondänen Schönheit Livia, die das Feld auch nicht freiwillig räumen wird ...

Über die Autorin / über den Autor:

Maurizio de Giovanni, 1958 geboren, lebt und arbeitet in Neapel. Für seine Ricciardi-Romane, die auch in Frankreich, Spanien und den USA grosse Erfolge feiern, hat er bereits mehrere Preise erhalten. Folgende Ricciardi-Krimis sind bisher bei Suhrkamp und Insel erschienen: Die Gabe des Commissario Ricciardi, Der Winter des Commissario Ricciardi, Der Frühling des Commissario Ricciardi und Der Sommer des Commissario Ricciardi.

Preis: CHF 14.50
Sprache: Deutsch (aus dem Italienischen von Doris Nobilia)
Art: Taschenbuch
Erschienen: 2014 (2012)
Verlag: Insel
ISBN: 978-3-458-35987-6
Masse: 319 S.

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