Natalia Ginzburg

Lessico Famigliare

"Il baco del calo del malo" – eigentlich "Il buco del culo del mulo" (!) – ist eine Wortspielerei, die sich einreiht in die vielen anderen Sprüche, Kurzgedichte und Ausdrücke, welche den Alltag der Familie Levi auszeichnen. Der obige Spruch ist jener von Mario, einem der vier Geschwister von Natalia Ginzburg. Im Vorwort zu ihrem 1963 erschienenen und mit dem Premio Strega ausgezeichneten Werk schreibt Ginzburg, dass in diesem Buch "Orte, Ereignisse und Personen der Wirklichkeit entsprechen".

Diese Wirklichkeit ist jene der jüdischen Familie Levi im Turin der 30er und 40er Jahre des letzten Jahrhunderts. Da ist der Vater Giuseppe Levi, Anatomieprofessor, begeisterter Berggänger und despotisches, kauziges Oberhaupt – auf den aber niemand so richtig hört – dieser sehr urbanen und intellektuellen Familie. Mit ihm und einiger seiner Wörter wie "Geschmier" und "Sudelei", die er gerne braucht, um seine Kinder bei Tisch zu rügen, aber auch um seine Meinung über moderne Kunst zu äussern, beginnt die Autorin die Schilderung ihres Familienlebens. Es spielt sich ab vor dem Hintergrund einer von politischen Ereignissen aufgewühlten Zeit: Aufkommen und Machtübernahme des Faschismus, Krieg und Widerstand, Wiederaufbau eines demokratischen Staates in der Nachkriegszeit. Aber gerade nicht die grossen historischen Ereignisse erhalten die Aufmerksamkeit der Schriftstellerin, sondern das Alltagsleben der Familie mit den mal kleinen mal grossen Sorgen, mit den Begegnungen und Abschieden, mit den Ängsten und Hoffnungen, den Freuden und Enttäuschungen. Die Persönlichkeit der einzelnen Familienmitglieder und deren nicht immer einfachen Beziehungen untereinander errät der Leser anhand der von ihnen gebrauchten Wörter. Die liebevoll ergebene, zarte aber auch selbstsichere Ehefrau und Mutter wird charakterisiert durch ihren Satz "Meine Enkelkinder sollen nicht mit nacktem Hinterteil dastehen müssen". Sie kümmert sich um die Bekleidung der Enkelkinder, indem sie ihnen Pullover kauft und von ihrem persönlichen Schneider Mäntel anfertigen lässt. Im Ausspruch "Aber was kann man bloss mit diesem Alberto anstellen", drückt sich ihre Sorge um die Kinder in dieser ungewissen Zeit aus.

Auch das politische, soziale und literarische Turin der Jahre 1925-1950 wir durch die vielen auftretenden Personen aus dem Umfeld der Erzählerin mit ihren Meinungen und Sätzen lebendig. Es braucht keine kühle und distanzierte Beschreibung der Ereignisse. Vom Widerstand gegen den Faschismus erfahren wir anhand der Handlungen der Brüder und deren Freunde. Verhaftung und Tod – Leone Ginzburg stirbt im Gefängnis – sind die Folgen dieses Engagements. Die Auswirkungen des Krieges werden bemerkbar auf dem Arbeitsweg des Vaters, der durch zerstörte Quartiere schreitet und sich weigert, bei Sirenenalarm den Bunker aufzusuchen. Das literarische Turin wird in der Schilderung der publizistischen Tätigkeit des in seinen Anfängen stehenden Verlags von Giulio Einaudi und seinen Schriftstellerfreunden erlebbar. Das Alltagsleben des mittelständischen Bürgertums manifestiert sich in der witzigen Beschreibung der Beziehung zwischen der Hausherrin und dem weiblichen Personal und den bescheidenen Nachmittagsvergnügungen der Gattinnen – Tee im Kreis von Freundinnen, Gang zum Schneider oder Kinobesuch. 

Natalia Ginzburg beschreibt 30 Jahre Familienleben ohne je zu interpretieren. In jedem ihrer Sätze spürt man die Liebe und Nähe zu den Personen und das Verständnis für deren Schicksale. Der Literaturkritiker Pietro Citati hat es bei seiner Buchbesprechung treffend gesagt: "Wie kein anderer italienischer Schriftsteller versteht es Natalia Ginzburg das Wesen der Familie zu erfassen. Das gemeinsame Leben, die Tischrunde, das Leben in gleichen Möbeln, der gemeinsame Gebrauch der Wörter und das Wissen um ihre besondere Bedeutung, all das schafft ein unbesiegbares und komplizenhaftes Netz, das die Familie zusammenhält." Ein wunderbares Buch! Angela Willimann  

Klappentext:

Lessico famigliare è il libro di Natalia Ginzburg che ha avuto maggiori e piú duraturi riflessi nella critica e nei lettori. La chiave di questo straordinario romanzo è delineata già nel titolo. Famigliare, perché racconta la la storia di una famiglia ebraica e antifascista, i Levi, a Torino tra gli anni Trenta e i Cinquanta del Novecento. E Lessico perché le strade della memoria passano attraverso il ricordo di frasi, modi di dire, espressioni gergali. Scrive la Ginzburg: "Noi siamo cinque fratelli. Abitiamo in città diverse, alcuni di noi stanno all'estero: e non ci scriviamo spesso. Quando c'incontriamo, possiamo essere, l'uno con l'altro, indifferenti, o distratti. Ma basta, fra noi, una parola. Basta una parola, una frase, una di quelle frasi antiche, sentite e ripetute infinite volte, nel tempo della nostra infanzia. Ci basta dire 'Non siamo venuti a Bergamo per fare campagna' o 'De cosa spussa l'acido cloridrico', per ritrovare a un tratto i nostri antichi rapporti, e la nostra infanzia e giovinezza, legata indissolubilmente a quelle frasi, a quelle parole."

In appendice la Cronistoria di Lessico famigliare a cura di Domenico Scarpa e uno scritto di Cesare Garboli.

Über die Autorin / über den Autor:

Natalia Ginzburg (Palermo 1916-Roma 1991) ha scritto molte opere di narrativa e testi teatrali, oltre a saggi di critica letteraria e di attualità politica. Negli Einaudi Tascabili sono disponibili: È stato cosí, Tutti i nostri ieri, Valentino, Le voci della sera, Le piccole virtú, La strada che va in città e altri racconti, Lessico famigliare, Cinque romanzi brevi, Famiglia, La famiglia Manzoni, La città e la casa, Mai devi domandarmi, Caro Michele.

Preis: CHF 20.50
Sprache: Italienisch
Art: Broschiertes Buch
Erschienen: 2014 (1963)
Verlag: Einaudi
ISBN: 978-88-06-21929-1
Masse: 247 S.

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