Carlo Levi

Christus kam nur bis Eboli

Es war der Besuch in der Felsenstadt Matera in Süditalien im letzten September, der mich dazu bewegte, den Klassiker, der mir nur dem Titel nach bekannt war, nun doch einmal zu lesen: Christus kam nur bis Eboli. Wir sahen die Höhlen, in denen die ärmeren Leute in Matera bis in die 1950er Jahre hausten. Kinder, Erwachsene und Haustiere lebten zusammen in einem einzigen fensterlosen Raum, davor ein meist winziger Anbau, um dem ganzen doch noch irgendwie den Anschein eines Hauses zu geben. Heute gehört Matera zum Weltkulturerbe der Unesco und wird 2019 europäische Kulturhauptstadt. Auch eine ganze Reihe von Filmen wurde in der malerisch-archaischen – und unterdessen auch zu einem guten Teil gentrifizierten – Altstadt gedreht, seit nach dem Erscheinen von Carlo Levis Buch italienische Intellektuelle auf die Stadt aufmerksam wurden. So drehte Pasolini dort einen Teil von Das 1. Evangelium – Matthäus (1964) und protestierte zusammen mit andern italienischen Intellektuellen gegen die unwürdigen Lebensbedingungen der Höhlenbewohner.

Als Carlo Levi 1935/36 ein knappes Jahr im Dorf Aliano (im Buch Gagliano) in der Provinz Matera verbringt, ist die Armut noch entsetzlich und allgegenwärtig. Die Menschen sagen von sich selber, dass sie keine cristiani, keine Christenmenschen seien, Christus sei nur bis nach Eboli, der grösseren Stadt an der Hauptstrasse im Nordwesten, gekommen. Der Maler und Schriftsteller ist ein confinato, ein Verbannter des Mussolini-Regimes und seine Bewegungsfreiheit strikt auf die Grenzen des Dorfes beschränkt. Obwohl er seinen ursprünglichen Beruf als Arzt nicht lange ausgeübt hat, lässt er sich angesichts der Bitten der Leute darauf ein, sie soweit wie möglich medizinisch zu versorgen, bis ihm auch das verboten wird. Dadurch wird er zu einem Vertrauten vieler Menschen, ihre letzte Hoffnung oft.

In seinem Buch – eher eine sehr persönliche Reportage als ein Roman –  schildert Levi das ärmliche Leben der contadini, der Kleinbauernfamilien, geprägt vom Hunger, von der allgegenwärtigen Malaria und der Ausbeutung durch die degenerierte und habgierige lokale Bourgeoisie. Aber er zeigt auch die Stärken dieser Menschen, ihre Gastfreundschaft und ihre Aufrichtigkeit zum Beispiel und die Menschlichkeit einer archaischen Gesellschaft, die sich nicht wirklich den Werten und Zwängen des Christentums verpflichtet fühlt. Sexualität etwa gilt als eine Naturkraft, der man sich nicht entgegenstemmen kann. Und wenn man deshalb vermeiden sollte, dass ein Mann und eine Frau irgendwo alleine in einem Raum sind, ist es völlig selbstverständlich, dass es Frauen gibt, die Kinder von verschiedenen Männern haben. Was zählt, ist die Mutter eines Kindes, wer der Vater ist, ist sekundär. Levi spricht sogar von einem matriarchalen Regime, das er allerdings auch auf die Tatsache zurückführt, dass es sehr viel mehr Frauen im Dorf gibt, da viele Männer nach Amerika ausgewandert sind.

Stoisch ertragen die Bauern ihr mühseliges Leben und nur selten blitzt Widerstand auf. So entziehen sich viele der vom Bürgermeister einberufenen Versammlung, wo Freiwillige für Mussolinis Abessinienkrieg gesucht werden. Politik interessiert sie nicht, die in Rom machen eh, was sie wollen, und wenn sie das Geld für einen Krieg ausgeben, statt endlich eine Brücke über den Agri zu bauen, ist das ihre Sache. Und schon in der ersten Euphorie über die faschistische Expansion, die damals offensichtlich andere italienische Regionen erfasste, steht bei ihnen eher der Gedanke an die Menschen, denen man das Land wegnimmt, das man erobern will, im Vordergrund.

So wenig Levi mit beissender Ironie gegenüber den gentiluomini, der lokalen "Elite", spart, die nichts für die ärmere Bevölkerung tut, aber noch erwartet, dass diese ihnen Kirchenobolus und Weihnachtsgeschenke bringt, so einfühlsam, ja liebevoll, erzählt er von den contadini. Die Menschen sind ihm ans Herz gewachsen und das überträgt sich auf die Lesenden. Ein berührendes Buch, das einem einiges verstehen lässt über den Mezzogiorno, den verkannten italienischen Süden, der auch heute noch sehr weit weg ist von Rom und den Wirtschaftszentren in Norditalien. Elisa Fuchs

Klappentext:

Lukanien, ganz unten am Stiefel. Dort, wo Eisenbahn und Strasse die Küste von Salerno verlassen, liegt Eboli, und dahinter beginnt der Mezzogiorno, dessen Bewohner sagen: "Wir sind keine Menschen, keine Christen, wir sind Tiere, denn Christus kam nur bis Eboli, aber nicht weiter, nicht zu uns." In diese gottverlassene Gegend kommt im Spätsommer 1935 der Turiner Arzt Carlo Levi – vom Regime wegen seiner antifaschistischen Aktivitäten in die Verbannung geschickt. Ernste, von Malaria ausgezehrte Gesichter blicken ihm entgegen. Doch Levi gewinnt die Zuneigung dieser Menschen, als er den Kampf gegen die Krankheit aufnimmt. In den zwei Jahren seines Zusammenlebens mit ihnen betreut der Arzt Levi die Kranken, der Schriftsteller und Maler in ihm porträtiert Jahre später die Landschaft und ihre Menschen: Eindringlich erfasst Carlo Levi das archaische Leben im Mezzogiorno, den Alltag dieser Bauern, ihre Kümmernisse und Krankheiten, aber auch ihre Feste, ihre geheimen Hoffnungen und Wünsche. – Christus kam nur bis Eboli erschien 1945: In über 40 Sprachen übersetzt, begründete dieser dokumentarische Roman den italienischen Neorealismus.

Über die Autorin / über den Autor:

Carlo Levi, am 29. November 1902 in Turin geboren, war Arzt, Schriftsteller und Maler. Nach den Jahren seiner Verbannung schloss er sich in Paris der französischen Widerstandsbewegung an. Später lebte er in Rom, wo er am 4. Januar 1975 starb. Die berühmte Verfilmung von Christus kam nur bis Eboli entstand 1978 unter der Regie von Francesco Rosi.

Preis: CHF 15.90
Sprache: Deutsch (aus dem Italienischen von Helly Hohenemser-Steglich)
Art: Taschenbuch
Erschienen: 2003 (1945)
Verlag: dtv
ISBN: 978-3-423-13039-4
Masse: 286 S.

zurück