Fedele Conte Mamái ist der Ich-Erzähler im Roman Das Delta von Kurt Lanthaler. Der in die Jahre gekommene Fedele schreitet über die Piazza des Dorfes Maierlengo. Er will die osteria aufsuchen. Er war über vierzig Jahre nicht mehr daheim gewesen, im Po-Delta. Er spricht mit sich selbst, denn die Piazza ist menschenleer und auch die osteria ist verwaist. Überall sind Spuren des Zerfalls sichtbar: Schimmel, Staub und zerbröckelter Putz liegen auf den Dingen, die kein Mensch mehr berührt. In der feuchten und dunklen osteria beginnt Lanthalers mutiger und lebenskluger Held seine Lebensgeschichte zu erzählen. Sie besteht aus vielen Erinnerungen, die als Puzzlesteine zu einem spannenden Ganzen verwoben werden.
Der Mann aus dem Delta hat ein unstetes Leben. Wir begleiten ihn über Jahrzehnte hinweg durch Italiens Landschaften und darüber hinaus. Conte Fedele Mamái ist ein Einzelgänger, der jedoch nicht der Einsamkeit verfällt, sondern dank seines verschmitzten Wesens viele Begegnungen erlebt, die oftmal kurios sind und uns schmunzeln lassen, die uns jedoch immer wegen ihrer tiefen Menschlichkeit berühren. Kindheit und Jugend durchlebt Fedele, das Findelkind, zwischen Fluss, Deich und Meer. Bombolo heisst der Lastkahnfahrer, der das Kind im Schlamm findet – fast hätte er es zertreten. Dieser wortkarge "Stolperauffindvater" gibt ihm den Namen Fedele, der Treue. Einmal griff der kleine Junge nach dem rettenden Tau, das Bombolo ihm zugeworfen hatte, nachdem er aus dem Boot ins Wasser gefallen war. Fedele wird Bombolo aber verlassen, später, nachdem er bei ihm gelernt hatte, Aale schmackhaft zu finden und er sich selber beigebracht hatte, diese zu wildern. Bei einem dieser Unternehmen wurde Fedele von den carabinieri überrascht und abgeführt. Auf dem Kommissariat verpasst der maresciallo dem Findelkind erneut einen Namen und nennt ihn Fedele Maierlengo. Seine Jugendjahre am Po-Ufer sind bevölkert von trickreichen Aaldieben und dem bäuerlichen Schweinemetzger Vaccarìn. Durch die Welt des Delta kämpfen sich traurige Schnapstrinker, fluchende Lastkahnfahrer und wenige, stumme, traurige Frauen. Sie alle leiden unter den Wassern des Pos, die manchmal alles überfluten und zerstören und eine faulige Schlamm-und Dreckschicht zurücklassen. Am Tag des grossen Dammbruchs, am 10. November 1954, beschliesst Fedele, das Delta zu verlassen und dem Po Richtung Berge zu folgen. Seine Geschichte oder eher Geschichten erzählt der nun Erwachsene auch einer Frau; er nennt sie "Essgenossin". Das Essen nimmt in der Erzählung einen wichtigen Raum ein. Fedele liebt es, zu essen und darüber zu reden. Es ist der sinnlichste Aspekt in seinem Leben: Baccalà, bresaola und Rezepte noch und noch, die das Leben erträglicher und geniessbarer machen.
Fedele hat die Deiche am Meer also mit den Dämmen in den Alpen eingetauscht. Er schuftet und schleppt Zementsäcke. Aber auch dies nicht ein Leben lang. Vom Gebirge treibt es ihn in italienische Vorstädte, wo er als Luna-Park-Angestellter Eintrittskarten verkauft. Mal sehen wir ihn als Hafenarbeiter an der kalabrischen und sizilianischen Küste, mal als Matrose in Genua: "Zementbuckler", Hilfsarbeiter in einem Walzwerk, Nebendarsteller in kitschigen Cinecittà-Produktionen; es ist wie auf der Achterbahn des Lebens. Dabei vergeht die Zeit, und das Italien der Jahre 1954 bis heute blitzt in jeder menschlichen Begegnung, in jeder Beschreibung der Orte auf, die Conte Fedele Mamái mit seiner Lebensfreude erobert. Kurt Lanthaler hat seinen Helden mit Witz, Ironie, Lebenswillen und Lebensmut ausgestattet. Sein Ich-Erzähler hat auch ein Auge für den grossen und kleinen Kummer, für die Ungeschicklichkeiten und Ängste des popolino, der kleinen Leute. Man begreift, dass es zum Leben Mut braucht und einige Tricks natürlich, um heil davon zu kommen. Am Ende der Geschichte sitzt Conte Fedele Mamái nun doch nicht alleine in der heruntergekommenen osteria des vermeintlichen Geisterdorfes Maierlengo: In der Küche hackt ein chinesischer Koch Gemüse. Wie gut passt doch Fedeles Kofferinhalt dazu: "bottarga, bresaola, baccalà und babà".
Mit Das Delta hat uns Kurt Lanthaler eine tolle Geschichte erzählt. Die dem deutschen beigemischten italienischen Wörter und Sätze, die zweisprachig gehaltenen 48 Kapiteltitel unterstreichen die Musikalität der Sprache und färben die Erzählung mit italienischer sapienza di vivere. Angela Willimann
Klappentext:Die Geschichte der Geschichten eines gewissen Fedele Conte Mamái, als Säugling im Schwemmland des Po aufgefunden, an Bord einer chiatta auf dem Grossen Fluss herangewachsen. Die Geschichten der Geschichte von Aal und Fluten, von der Erfindung eines Schweinsblasenrezeptes, der vecia col pist und dem lavoriero, der Frau am Kanal und dem Schwein auf dem Eis; von Maierlengo, dem Dorf hinter dem Deich, und vom namenlosen Dorf hinter der Staumauer am Berg; von den grossen Vorhaben der Ingenieure und den noch grösseren der Natur. Die Geschichte der Geschichten vom Essen und vom Weiterziehen, von den Sprachen und den Sprichwörtern. Vom Delta und vom Δ.
Lanthaler erzählt einen mäandernden Lebenslauf, der vom Delta des Po ausgehend quer durch das Land und die Jahrzehnte, in die Berge und ans Meer führt. Und schreibt einen Schelmen- und Entwicklungsroman, in dem Natur und Kultur aufeinander prallen. Fünfzig Jahre vorgeblicher Zivilisationsgeschichte ziehen an uns vorüber, pralles italienisches Leben voller Lust und Leid. Und wenn Fedele Conte Mamái schliesslich in sein Urspungsdelta zurückkehrt und dort von Sondereinsatzkräften überwältigt wird, sind wir endgültig im Heute angelangt ...
Über die Autorin / über den Autor:Kurt Lanthaler, geboren 1960 in Bozen, lebt als freier Schriftsteller in Berlin und Zürich. Kurzgeschichten, Romane, Theater, Hörspiel, Lyrik; Übersetzer aus dem Italienischen. Seine fünf Tschonnie-Tschenett-Romane Der Tote im Fels, Grobes Foul, Herzsprung, Azzurro und Napule machten ihn einem breiten Publikum bekannt. Bei Haymon zuletzt erschienen: :himmel & hoell. 84 strofen & 84 bilder fuer 84 stufen (gemeinsam mit Peter Kaser, 2003)
Preis: CHF 28.90