Rafael Chirbes

Am Ufer

Das Buch beginnt im Sumpf in der Lagune bei La Marina, und dort endet es auch nach 430 Seiten metaphorischem Sumpf. So sieht Rafael Chirbes Spanien im Jahr 2010. Man steht "Am Ufer" und zugleich am Abgrund. Und Esteban ist bereits gestürzt. Esteban hat vor Jahren die Schreinerei übernommen, die schon sein Grossvater geführt hatte. Aber goldenen Boden sucht er nicht im Handwerk wie noch sein Vater, der Alte, der das Schnitzwerk so wunderbar beherrschte. Esteban möchte lieber an das schnelle Geld, genau wie der Staat, genau wie viele Zeitgenossen. Er lässt sich vom allgemeinen Hype verführen und übersieht, dass das Wirtschaftswachstum so unkontrollierbar wuchert wie ein böser Tumor, gegen den man machtlos ist. Zum Alten hat er keine gute Beziehung mehr. Der steckt noch in der Vergangenheit, die in Spanien, die bei Chirbes immer meint: Bürgerkrieg, Diktatur, Leben unter Franco. Die Gräuel von damals, die man selber erlitten und die man anderen zugefügt hat: Unverarbeitet, verdrängt. Aber die Jungen wollen davon nichts wissen. Sie haben ihre eigene Scham. Es ist die Scham eines Menschen, der wie Esteban gierig riskiert und alles verloren hat, und dessen Freunde jetzt die Strassenseite wechseln, um nicht von ihm angepumpt zu werden.

Rafael Chirbes Blick auf die Gesellschaft ist schonungslos. Mit scharfem Skalpell legt er Schicht um Schicht frei bis dorthin, wo es gärt und fault. Sumpfausdünstungen. Manchmal schreibt er seitenlanges Continuo, ohne einen einzigen Absatz, als wollte er die Protagonisten nicht unterbrechen, die nur in inneren Monologen zu sich selber finden. Gegen aussen aber: "alles Falschspieler" (Zitat). Chirbes wechselt die Ich-Perspektiven fliessend: mal ist der Ich-Erzähler Esteban, manchmal ist es die Kolumbianerin Liliana, die den Alten pflegt, dann wieder der Alte selber. Alle sind miteinander verknüpft, aber der Faden zwischen ihnen ist gerissen. Den Männern ist allerdings etwas gemein: Sie denken immer nur an das eine. Esteban, seine ehemaligen Angestellten, die Dominospieler, sogar der Alte noch: kann sich kaum mehr bewegen, aber seine Hände nicht von der Wäsche der Pflegerin lassen. Und sie wiederum kann ihre Hände nicht vom Schmuck der Pflegefamilie lassen. Ein Sumpf, fürwahr. Maya Doetzkies

Klappentext:

Die Immobilienblase in Spanien ist geplatzt, die Profiteure haben ihr Geld rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Zurückgeblieben sind nur noch Verlierer. Ihnen gilt Rafael Chirbes‘ Interesse und seine Empathie. Esteban hatte sich als junger Mann ein anderes Leben erträumt, ist dann doch in der Familienschreinerei hängengeblieben. Aber anders als sein sozialistisch strenger Vater, der nach der Maxime lebt: Wir beuten niemanden aus, wir leben von dem, was wir erarbeiten, wollte Esteban – wie alle andern auch – sein Stückchen vom grossen Immobilienkuchen. Und als sein Vater alt und nicht mehr handlungsfähig ist, investiert er das im Familienbetrieb erarbeitete Geld in eine Baufirma. Zu spät. Die Firma geht pleite und mit ihr die Schreiner. Insolvenz, Beschlagnahmung der Maschinen, die Mitarbeiter stehen auf der Strasse, auch die kolumbianische Pflegerin des alten Vaters kann nicht mehr bezahlt werden. Doch Esteban ist auch mit siebzig noch ein vitaler Mann. Und er ist Realist. Eine Perspektive für die Zukunft sieht er nicht und zieht die Konsequenzen.

Rafael Chirbes erzählt einen Wirtschaftskrimi und eine Familiengeschichte. Und er schreibt die Mentalitätsgeschichte Spaniens fort. Sarkastisch, mit viel Humor und Witz zeigt er uns die gesellschaftlichen Verwerfungen, den Tanz um das goldene Kalb, der immer weitergeht.

Über die Autorin / über den Autor:

Rafael Chirbes, geboren 1949 in Tabernes de Valldigna bei Valencia, studierte in Madrid und lebt in Beniarbeig bei Alicante. Er arbeitete als Literatur- und Filmkritiker für verschiedene Zeitschriften, u.a. für das Reise- und Gourmetmagazin Sobremesa. Rafael Chirbes gehört zu den international bekanntesten spanischen Autoren, seine Romane, u.a. Der lange Marsch, Der Fall von Madrid, Alte Freunde, wurden in viele Sprachen übersetzt. Für seinen letzten Roman Krematorium erhielt er 2008 den Spanischen Nationalpreis der Kritik. Rafael Chirbes starb im August 2015.

Preis: CHF 16.90
Sprache: Deutsch (aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz)
Art: Taschenbuch
Erschienen: 2015 (2013)
Verlag: btb
ISBN: 978-3-442-74910-2
Masse: 432 S.

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