Paco Roca

Die Heimatlosen

Der Comiczeichner Paco Roca bringt uns in seiner Graphic Novel Die Heimatlosen einen Teil spanischer Geschichte näher, der (nicht nur in der deutschsprachigen Welt) weitgehend unbekannt ist: Nämlich die Beteiligung einiger Spanier an der Befreiung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg, die danach nicht in ihr von Franco regiertes Vaterland zurückkehren konnten, sondern heimatlos wurden. Einer von ihnen war Miguel Ruiz, die Hauptfigur im Comic.

1936, als die Nationalisten immer aggressiver werden, fliehen Hunderte Republikaner, Kommunisten, Trotzkisten und Anarchisten aus Spanien. Miguel Ruiz gelingt es in Alicante, einen Platz auf einem Schiff zu ergattern, das nach Nordafrika fährt. Im algerischen Oran wird er zusammen mit anderen Antifaschisten in ein Straflager interniert, und dort bald schikaniert bis aufs Blut. Einige drehen durch, andere rennen verzweifelt in die Wüste hinein; Ruiz überlebt die Strapazen. Als in Europa die Deutschen Frankreich besetzen und 1944 die Alliierten zum Gegenschlag ausholen, lassen sich 150 Internierte nach Nordfrankreich bringen, um sich am Befreiungskampf zu beteiligen. Sie glauben, dass nach Frankreich auch Spanien mit internationaler Kraft vom Faschismus gesäubert werde. Ihre Kompanie trägt den Namen "La Nueve"; sie ist verwegen, geschickt und mutig. Und so sieht man sie alsbald auch an der Ehrenparade auf der Champs Elysées, bejubelt von den Franzosen. Auf ihren Panzern steht "Madrid" und "Guadalajara". Doch dorthin gelangen sie nicht. Während in Frankreich das Leben weitergeht, bleibt für sie alles stecken: die Befreiung, die Hoffnung, der Glaube an ein besseres Spanien. Franco starb bekanntlich erst 1975.

Den Männern blieb nicht nur die Heimkehr verwehrt, sondern auch der Respekt vor ihrem Einsatz gegen die Nazis. Sie galten als Linke, und Linke galten in der franquistischen Diktatur als Nichts. Sie erhielten auch keinerlei finanzielle Unterstützung, sondern mussten sich irgendwo und irgendwie durchs Leben schlagen, verbittert, verarmt, vergessen. Bis der Comiczeichner auftaucht.

Paco Roca erzählt parallel auf zwei Ebenen: Auf der einen ist es die Suche nach und die Begegnung mit Miguel Ruiz, ein zunächst misstrauischer, bräsiger Mann, der aber immer mehr auftaut, je länger er dem Comiczeichner (mit den Gesichtszügen Rocas) in den Block diktiert. Auf der zweiten Ebene werden Flucht nach und Lagerleben in Nordafrika und Abenteuer der "La Nueve" in Frankreich erzählt. Die verschiedenen Zeiten sind in unterschiedlichen Farben festgehalten: gedämpftes Grau für die Interviewstunden, Buntes für die Vergangenheit: eitriges Gelb, beissendes Rot.

So real die Geschichte wirkt: ein Teil ist Fiktion. Paco Roca hat Miguel Ruiz nicht gefunden, sondern erfunden. Allerdings gibt es ein Vorbild für die Hauptfigur, einen Kämpfer namens Miguel Campos, der aber in den Wirren des Weltkrieges verschollen ist. Die Fakten über "La Nueve" freilich sind historisch korrekt wiedergegeben. Paco Roca hat viel recherchiert, alte Fotos studiert, Dokumente gelesen und mit anderen Ehemaligen der "La Nueve" gesprochen, den wenigen, die noch leben. Insofern hat er Miguel Ruiz durchaus befragt: die Kunstfigur ist das Konglomerat verschiedener Personen.

"La Nueve" wird heute in Spanien nicht mehr verschwiegen. Es gibt sogar Videos auf YouTube. Zu dieser (in Spanien immer noch viel zu wenig vorgenommenen) Geschichtsaufarbeitung hat der Comic beigetragen. In Spanien erschien das Werk 2013, auf Deutsch 2015. Wer den Comic liest, wird nicht umhin kommen, eine beklemmende Aktualität zu bemerken: In den dreissiger Jahren flüchteten Spanier auf völlig überfüllten Schiffen übers Mittelmeer nach Afrika. Heute fahren Schiffe mit ähnlich verzweifelten Menschen in die umgekehrte Richtung. Maya Doetzkies

Klappentext:

August 1944: Nach der Irrfahrt durch das vom Faschismus zerrüttete Eruopa und durch nordafrikanische Arbeitslager erreicht eine Gruppe spanischer Kommunisten und Anarchisten das nazibesetzte Frankreich. An der Seite der Résistance kämpfen sie bis zur Kapitulation der Deutschen und spielen nicht zuletzt eine wesentliche Rolle bei der Befreiung von Paris.

Anhand der Erinnerungen von Miguel Ruiz, einem spanischen Republikaner, rekonstruiert Paco Roca die bisher wenig bekannte Geschichte der spanischen Exil-Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg, die in verschiedenen Ländern gegen den Faschismus kämpften – nur in ihrer eigenen Heimat konnten sie die Diktatur nicht beenden.

Über die Autorin / über den Autor:

Paco Roca, eigentlich Francisco Martínez Roca, geboren 1969 in Valencia, ist einer der erfolgreichsten Comiczeichner Spaniens. Seine Erzählung Kopf in den Wolken, in der er eindringlich den Verlauf einer Alzheimer-Erkrankung nachzeichnet, wurde 2008 vom spanischen Kulturministerium mit dem Nationalen Comic-Preis bedacht. Die Verfilmung des Stoffs, für die Paco Roca selbst das Drehbuch verfasste, wurde gleich mehrfach mit dem spanischen Filmpreis Goya ausgezeichnet.

Preis: CHF 51.50
Sprache: Deutsch (aus dem Spanischen von André Höchemer)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2015 (2013)
Verlag: Reprodukt
ISBN: 978-3-95640-033-9
Masse: 328 S.

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