Xosé M. Núnez

Die bewegte Nation. Der spanische Nationalgedanke 1808-2019

Von diesseits der Pyrenäen wird Spanien als einheitliches Land wahrgenommen, zwar mit ausgeprägt eigenständigen Regionen, Landschaften und  Spezialitäten, aber doch als eine einzige Nation. Und darum irritiert mitunter der laute Ruf einiger Provinzen nach mehr Autonomie oder gar Unabhängigkeit (Katalonien). Was ist pure Politpropaganda, was historisch begründet? Wer Antworten sucht, sollte zum Buch Die bewegte Nation des spanischen Historikers Xosé M. Núñez Seixas greifen. Es hilft, faktenbasiert und wohltuend unaufgeregt, einzuordnen und zu sortieren, was dieses Land umtreibt. Als Galizier sympathisiert der Autor zwar eher mit den Peripherien, aber er bleibt auch gegenüber Madrid korrekt und fair.

Um zu verstehen, muss man zurückblicken. Jahrhundertelang war Spanien weniger ein Staat als eine multiethnische Gemeinschaft, ein Flickenteppich von (heute) 50 Provinzen mit je eigenen Traditionen, Königreichen und Fürstentümern, Sprachen und Rechten, die nicht selten in alle möglichen Himmelsrichtungen auseinanderstrebten. Zwar sah sich Kastilien lange als Rückgrat, aber die Ränder wehrten sich oft und heftig gegen dieses Diktat. Erst die napoleonische Invasion von 1808 schweisste die Spanier zusammen. Diesen Zeitpunkt datiert Núñez Seixas als Geburtsstunde des "spanischen Nationalgedankens" (so der Untertitel). Im – später heroisierten – Widerstand gegen die Franzosen war sich das disparate Volk für einmal einig. Und in dieser Phase entstand auch das Image des feurigen Spaniers: tapfer, stolz, irgendwie exotisch. So überzeichneten ihn zumindest die Nicht-Spanier.

Das Wir-Gefühl verschwand allerdings wieder, der Traum zur Rückkehr als Grossmacht wurde mit dem Ende der letzten Kolonien (Kuba, Philippinen) 1898 endgültig begraben. Dafür bildeten sich immer mehr Nationalbewegungen heraus: das Baskenland, Katalonien, Galicien, Valencia, Andalusien und Aragonien pochten auf mehr Eigenständigkeit und verteidigten ihre historisch gewachsenen Sonderrechte und Privilegien, die teilweise recht weitreichend waren. Tendenziell legten sich die Konservativen mit ihrem Misstrauen gegen die Zentralgewalt mehr ins Zeug für die "Freiheit der Provinzen", während die Liberalen und Demokraten die Idee eines Zentralstaates begrüssten. Während des Bürgerkrieges (1936-1939) und der nachfolgenden Franco-Diktatur wurde das Einig-Vaterland sowohl zum Mythos hoch beschworen wie gleichzeitig als mörderische Waffe gegenüber Andersdenkenden eingesetzt. Und als die "schwarzen Jahre" mit dem Tod Francos (1975) vorbei waren, mochte niemand mehr den belasteten Begriff des Nationalismus verwenden. Man sprach jetzt von Patriotismus. Und man bekannte sich zu einem Staat, in dem auch die ethnokulturelle Pluralität ihren Platz haben konnte. Nur, so einfach liessen sich die Wogen nicht glätten. In den Provinzen gärte es weiter, besonders heftig im Baskenland. Der gegenwärtige Hotspot ist allerdings Katalonien. Lange beharrten die Katalanen auf mehr Autonomie, doch seit das Verfassungsgericht 2012 etliche Artikel des revidierten Autonomiestatuts gestrichen hat, fordern manche katalanischen Politiker die komplette Loslösung von Spanien.

Was hier sehr grob zusammengefasst ist, beschreibt Núñez Seixas natürlich detailliert und fein verästelt. Letztlich entscheidet sich die Zukunft Spaniens an der Frage, ob es sich ein Staatsmodell mit (überkommenen) Sonderrechten für die Peripherien leisten will und kann – oder ob ein  solch asymmetrischer Föderalismus eine Diskriminierung für die Menschen in den anderen Regionen und damit anfechtbar wäre. Vor dieser echt schwierigen Entscheidung stehen alle Spanierinnen und Spanier, nicht nur die Randregionen. Dieser Diskurs müsste breit und öffentlich auf politischer Ebene geführt und nicht vor Gericht erstritten werden, wie es zurzeit in Katalonien geschieht – was der Historiker zu Recht fordert bzw. kritisiert.

So nebenbei korrigiert Núñez Seixas eine Falschmeldung, die in Katalonien weitverbreitet ist: die Sache mit der Sprache nämlich. Es schmerzt viele Katalanen und Katalaninnen bis heute, dass ihre Sprache während der Diktatur verboten war. Nur: sie war gar nie verboten. Franco hatte das Spanische als allgemein gültige Sprache und alleinige Amtssprache festgelegt und den Unterricht in Katalanisch untersagt. Aber Katalanisch war und blieb die Sprache der Familien, der Dichter und der Folklore, wurde immer auch geschrieben und publiziert. Das wird heute auf den Strassen Kataloniens anders kolportiert – wie noch so manche historische Tatsache.

Für die deutsche Leserschaft ist das Buch überarbeitet und ergänzt worden, um die Verständlichkeit zu gewähren. Henrike Fesefeldt hat vorzüglich aus dem Spanischen übertragen. Maya Doetzkies

Klappentext:

Bekundungen eines spanischen Nationalgefühls, wie zum Beispiel das Hissen der spanischen Fahne an Balkonen und Geschäften, haben seit den Auseinandersetzungen um die katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen deutlich an Verbreitung und Sichtbarkeit gewonnen. Gleichzeitig spielt in der gegenwärtigen spanischen Politik und in öffentlichen Debatten die Frage der nationalen Identität eine immer wichtigere Rolle. Was also bedeutet es heute, Spanier zu sein?

Xosé M. Núnez Seixas untersucht den spanischen Staatsnationalismus ebenso wie die politischen Konzepte des Patriotismus und Nationalismus. Darüber hinaus widmet er sich auch der in den Massenmedien wie von prominenten Intellektuellen und Politikern vertretenen Position, dass es einen spanischen Nationalismus überhaupt nicht gibt. Er skizziert die historische Entwicklung vom Verlust der einstigen Grösse, über den blutigen Bürgerkrieg und die Diktatur Francos bis zu den nationalistischen und patriotischen Diskursen im europäischen Kontext.

Der spanische Nationalstolz hat einerseits durch die Herausforderung der erstarkten katalanischen Unabhängigkeitsbewegung einen neuen Impuls erhalten. Andererseits sind in den letzten Jahren zunehmend radikale Tendenzen sichtbar geworden – nicht zuletzt in der Gründung der rechtsradikalen Partei Vox. Auch Konservative und Liberale haben sich die Verteidigung der spanischen Nation auf ihre Fahnen geschrieben. Dennoch bleibt die Frage, was sich heute hinter dem Etikett "spanischer Nationalismus" bzw. "Patriotismus" verbirgt. Zwar reklamieren alle Parteien, Gruppierungen und nationalistischen Strömungen für sich, die soziale und politische Krise zu lösen, indem sie ein angemessenes Konzept der spanischen Nation zur Grundlage ihrer Politik machen, der Verfasser konstatiert jedoch, dass es bisher keiner Richtung gelungen ist, eine hegemoniale Position zu erreichen.

Und hier ein Artikel zum Buch, der in der Frankfurter Allgemeinen erschienen ist.

Über die Autorin / über den Autor:

Xosé M. Núnez ist Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Universität Santiago de Compostela. Zwischen 2012 und 2017 war er Professor für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der LMU München.

Preis: CHF 41.50
Sprache: Deutsch (aus dem Spanischen von Henrike Fesefeldt)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2019 (2018)
Verlag: Hamburger Edition
ISBN: 978-3-86854-336-0
Masse: 256 S.

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