Ursula Naumann

El Caballero Gustavo Bergenroth

Was für eine Konstellation: Ein Ostpreusse erforscht im Herzen Spaniens die englische Tudorzeit (Heinrich VII., Heinrich VIII.) und malt "eine ziemliche Menge schwarzer Schatten in die couleur de rose" (Bergenroth), mit der die Geschichte des 16. Jahrhunderts bis dato geschrieben worden ist. Natürlich vergräzt er damit die englische Fachwelt, denn der Mann ist erstens ein Selfmade-Historiker und zweitens Deutscher. Aber Gustav Bergenroth, so heisst er, sucht nun einmal keine Wohlgefälligkeit, sondern die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Und darum weiht er dem Abenteuer Wissen sein Leben, das die deutsche Autorin Ursula Naumann für uns in diesem Buch aufgezeichnet hat. Was eine ausgezeichnete Sache ist: man lernt ihn gern kennen.

Gustav Bergenroth studiert in Königsberg Jura, bringt sich selber zusätzlich Statistik bei. Als glühender Demokrat steigt er bei den März-Revolutionen 1848 auf die Barrikaden und flieht, als ihm der Boden zu heiss unter den Füssen wird, nach Kalifornien. Der Traum einer demokratischen Kommune ist allerdings schnell verflogen. Bergenroth kehrt nach Europa zurück und findet in England ein neues Lebensthema: die Tudorzeit. Tagelang wälzt er in Bibliotheken Folianten, vertieft sich in die Historie, publiziert seine neuen Erkenntnisse und wird sofort scharf angegriffen. Mit den in England vorgefundenen Dokumenten ist er nicht zufrieden, er vermutet bessere Quellen in Spanien. Schliesslich war dies die Heimat der ersten Gattin von Heinrich VIII., Katharina von Aragon, und zudem war Spanien damals neben Frankreich und dem Habsburger Reich die wichtigste Grossmacht in Europa. Also müsste dort mehr zu finden sein. Und so ist es auch.

Wir sind jetzt im Jahr 1860 und im Buch auf Seite 150, also exakt in der Mitte, als Bergenroth auf der iberischen Halbinsel eintrifft. Er lässt sich im kastilischen Simancas nieder, denn hier befindet sich in einem turmbewehrten Kastell das Staatsarchiv des Landes. Er erhält Einlass, darf die Schriftstücke sehen, aber kann sie nicht lesen: sie sind verschlüsselt. Es gelingt ihm, den ungemein komplizierten Code zu knacken. Zwar ist die Biographin Naumann eher um Präzision und Genauigkeit als um Spannungsaufbau bemüht, aber nun wird es ausgesprochen interessant. Und man muss sich gelegentlich daran erinnern, hier keine Fiktion zu lesen!

Bergenroths Wahrheitssuche ist wirklich ein Abenteuer, weil im 19. Jahrhundert Wissen noch als gefährlich gilt. Er muss viele Widerstände von Archivaren und Behörden überwinden, reist rastlos verschleppten Akten hinterher nach Paris, Rom, Brüssel. Er kämpft mit Hitze, Kälte und dem Staub von Hunderten von Jahren, arbeitet bis zur Erschöpfung. Wenigstens bekommt er nun Lohn von London. Seine detektivischen Arbeiten veröffentlicht er in einem Calendar so dick wie ein "Rhinozeros von 1200 Seiten" (Bergenroth). Was er ausgegraben hat, wird die Geschichtsschreibung verändern. Er ist der erste, der zweifelt, dass Johanna die Wahnsinnige so verrückt gewesen war, wie ihre Widersacher behaupteten, um sie Jahrzehnte lang wegsperren zu können. Heute wird diese Einschätzung von vielen geteilt.

Ursula Naumann erzählt Bergenroths Leben chronologisch, aber nicht linear; sie lässt viele Personen auftreten, denen er (eventuell) begegnet ist oder sein könnte; das lenkt mitunter ab, vor allem wenn die Verästelungen zum name droping abdriftet (beispielsweise ihr Hinweis auf Henning Mankell, weil der Kapitän eines von Bergenroth benutzten Schiffes aus Ystad gebürtig war). Von einer anderen Stileigenart profitiert man hingegen: Naumann führt viele (und teils lange) Zitate an (deren Quellen man oft allein im Apparat findet), und so hören wir Bergenroth im Originalton, und das ist ein Glück: Der Mann besitzt Witz und eine gute Beobachtungsgabe, und wie er das Dorfleben von Simancas schildert, so warm und anteilnehmend, muss man ihn einfach ins Herz schliessen. Sympathisch ist er auch durch seine Selbstkritik, für Autodidakten ja nicht untypisch. Bergenroth schrieb viel, aber seinen Kulminationspunkt, ein Werk über Karl V., schaffte er nicht mehr. Dennoch ist seine Lebensleistung gewaltig. Wenn je einer mit Leidenschaft zugange war, dann El Caballero Gustavo Bergenroth, geboren 1813 an der Grenze zu Polen, gestorben 1869 und begraben in spanischer Erde. Maya Doetzkies

Klappentext:

Früh am Morgen des 20. August 1860 trifft der ostpreussische Jurist Gustav Bergenroth in Simancas, einem abgelegenen Dorf in Kastilien, ein. Sein Ziel: das spanische Staatsarchiv, ein altes, mit dicken Mauern, Graben, Türmen und Zinnen bewehrtes Kastell, das erst seit kurzem für Forscher zugänglich ist. Er will die Tudorzeit, die farbigste Epoche der englischen Geschichte, erforschen. Doch er ahnt nicht, was ihn erwartet: Unendliche Mengen an verschlüsselten Depeschen, die vor ihm noch niemand entziffert hat. In achteinhalb Jahren knackt er unter widrigsten Umständen die kompliziertesten Codes – eine kryptologische Meisterleistung. Was er dabei entdeckt und in scharfsinnigen, illusionslosen Berichten veröffentlicht, stellt festgefügte Geschichtsbilder auf den Kopf und schockiert seine Zeitgenossen.

Wer ist dieser Gustav Bergenroth? Geboren und aufgewachsen in der masurischen Provinz, engagierter Demokrat, Barrikadenkämpfer in der 48er Revolution, nach deren Niederschlagung Flucht nach Kalifornien, dann Emigration nach London – er hat schon einiges hinter sich an abenteuerlichen Erfahrungen. Doch Simancas wird zum entscheidenen Kapitel seines wechselvollen Lebens.

Ursula Naumann hat eine glänzend recherchierte und mitreissend erzählte Biographie geschreiben. Sie zeichnet nichts weniger als das Bild eines Mannes, der, gegen seine Zeit, die Geschichtswissenschaft revolutionierte.

Über die Autorin / über den Autor:

Ursula Nauman, geboren 1945, freie Autorin, lebt in Erlangen. Ihre minutiös recherchierten und brillant geschriebenen biographischen Darstellungen erschienen im Insel Verlag, bei C.H. Beck und in der Anderen Biblitothek. 2014 Friedrich-Baur-Preis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.

Preis: CHF 35.90
Sprache: Deutsch
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2020
Verlag: Insel
ISBN: 978-3-458-17848-4
Masse: 346 S.

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