Donatella Di Cesare

Philosophie der Migration

Wer angesichts der politisch verfestigten Positionen beim Thema "Migration" eine gewisse Ermüdung im Denken und Argumentieren verspürt, dem/der sei die herausfordernde, aber auch erfrischende Lektüre des Buches der an der Universität La Sapienza in Rom lehrenden Philosophin Donatella Di Cesare empfohlen. Herausfordernd ist die Lektüre nicht nur, weil sie "philosophisch" ist, sondern weil sie unsere Denkgewohnheiten in Bezug auf Migration radikal auf den Kopf stellt. Erfrischend ist der Text, weil er von einer Autorin verfasst wurde, die sich nicht in den Elfenbeinturm der Philosophie zurückzieht, sondern eine politische Haltung einnimmt. In der Sternstunde Philosophie (07.11.2021) spricht Di Cesare über die Verantwortung der Philosophie, zu aktuellen gesellschaftlichen Problemen Stellung zu beziehen.

Die sogenannte "Flüchtlingskrise" im Jahr 2015 habe für sie die Frage aufgeworfen, wer eigentlich die Verantwortung dafür trage, dass seitdem jeden Tag im Mittelmeer Menschen sterben. Diese Frage, so die Philosophin, sei der der Anlass dafür gewesen, die Arbeit an einer "Philosophie der Migration" aufzunehmen. In dieser Arbeit, so die Philosophin im Gespräch mit Wolfram Eilenberger, versuche sie, eine radikale Analyse vorzunehmen. (Medial) dominant verwendete Begriffe werden einer etymologischen Kritik unterzogen um aufzuzeigen, dass Sprache eine bedeutende politische Rolle im Migrationsdiskurs spielt. Dieses Ansinnen scheint in einer Zeit, in der politische Diskussionen in erstarrten Positionen verharren, mehr als notwendig. Als Philosophin und Linguistin verweist uns Di Cesare darauf, dass Worte "weder unbedeutend noch indifferent" sind, sondern dass sie als "Etikettierungen" politisch dienstbar gemacht werden und somit über Politik entscheiden (S. 139).

Mit ihren Überlegungen zur komplexen Beziehung zwischen Migration und Staat, die am Beginn des Buches stehen, fordert Di Cesare unsere Denkgewohnheiten heraus. Ihre Ausgangsthese ist, dass sich im herrschenden Migrationsdiskurs eine "staatszentrierte Perspektive" durchgesetzt habe. Diese Perspektive basiere auf der Vorstellung von souveränen Nationalstaaten, in denen ein sich homogen imaginierendes "Wir" gegen Fremde/Andere abgrenzt. Die (nationale) Grenze, so die Philosophin, wird zum Ort "der Berührung und des Konflikts" und enthüllt gleichzeitig ein demokratisches Paradox. "Einerseits schützt sie den Demos, andererseits diskriminiert sie, schliesst aus und verstösst damit gegen jedes Prinzip der Gleichheit" (S. 56). Mit dieser These weist uns Di Cesare eindrücklich darauf hin, dass die Einnahme einer "staatszentrierten Perspektive" mit Diskriminierung einhergeht und das demokratische Gleichheitsversprechen verletzt. Das müssen wir uns vergegenwärtigen, wenn wir über Migration, Demokratie und Menschenrechte nachdenken. Und wir müssen uns die Frage stellen, wie wir mit dieser "tödlichen Spannung zwischen Nationalstaaten und universellen Menschenrechten" umgehen? Wer schützt die Menschen an Grenze, die wir als "Flüchtlinge", «Asylanten" oder "Fremde" bezeichnen und wir damit Menschen etikettieren, die keinen Pass und somit keine (nationale) Identität haben. Und was bedeutet es, dass jene zivilgesellschaftlichen Helfer:innen, die mit ihrem Engagement die Einhaltung der Menschenrechte einfordern, zunehmend kriminalisiert werden?

Für all diese Fragen schlägt Di Cesare keine (politischen) Lösungskonzepte vor, sondern fordert ein radikales Umdenken ein. Weg vom staatszentrierten Denken hin zu offenen Blick auf Migrant:innen, denen durch diesen Perspektivenwechsel eine subversive Funktion zugeschrieben werden kann. Das klingt zunächst irritierend, macht aber Sinn. Denn, so Di Cesare, "der Migrant demaskiert den Staat. Vom äusseren Rand aus befragt er dessen Grundlage, veranschaulicht seine Diskriminierung, erinnert ihn an sein geschichtliches Werden, diskreditiert seine mythische Reinheit – und hält deshalb dazu an, diesen neu zu denken. In genau diesem Sinne birgt die Migration subversives Potenzial" (S. 19). Es sind also Migrant:innen, die den Nationalstaat herausfordern und seine "im Niedergang befindliche Souveränität" offenlegen (S. 239). Die Migrationspolitik deutet diese Herausforderung als Bedrohung und reagiert mit einem "Sicherheitspositiv", das sich durch die Verschärfung der Grenzregime auszeichnet. An der Grenze werden Praktiken des Ausschlusses praktiziert, die in der politischen Rhetorik mit der "Sicherung des eigenen Landes" begründet werden. Damit wird ein Bild von Herkunft aufgerufen, das zwischen "uns" und den "Anderen" unterscheidet, und das Hand in Hand geht mit der Vorstellung, dass wir darüber entscheiden können, mit wem sie zusammenleben möchten. Aber, so fordert uns Di Cesare auf, wir sollten nicht vergessen, dass unsere Welt nicht mit mir/mit uns angefangen hat, sondern dass immer schon Andere vor uns da waren. "Wir denken, wir seien die ersten und dürften deshalb über andere entscheiden. Dabei sind wir alle immer auch Fremde an einem Ort" (NZZ, 30.12.2022). Mit dieser Perspektive macht Di Cesare die sogenannten Einheimischen zu "ansässigen Fremden" und erteilt damit einer stärker werdenden Grund-und-Boden Ideologie eine klare Absage. Es ist dieser von Di Cesare vorgeschlagene Perspektivenwechsel, der einmal mehr deutlich macht, dass fremd nicht nur die Anderen sind, sondern dass Fremdsein uns alle betrifft. Denn wir leben (fast) alle nicht an dem Ort, wo wir geboren sind. Wir sind darauf angewiesen, im Anderen/anderswo ein Zuhause zu finden, um unseren Wunsch nach Zugehörigkeit zu erfüllen. Unabhängig davon, welcher Nationalität wir angehören beziehungsweise welchen Pass wir in der Tasche haben. 

Die Philosophie der Migration ist ein dichter Text, mit dem die Leserin in philosophische Gedankengänge verwickelt, und auf begriffsgeschichtliche Spurensuche geschickt wird. Die Lektüre ist anspruchsvoll, aber nie langweilig. Dies hat zum einen mit einem eher essayistischen Schreibstil zu tun, zum anderen verbindet Di Cesare ihre Überlegungen kontinuierlich mit politischen Diskursen, die sie mit aktuellen Beispielen unterlegt. Es ist aber nicht zu verheimlichen, dass die Lektüre der Philosophie der Migration Denkarbeit bedeutet. Lassen sich die Leser:innen darauf ein, werden sie mit aufregenden Erkenntnissen "belohnt". Die von der Philosophin vorgeschlagene Dezentrierung der "Staatsperspektive" ist eine erhellende und zugleich beunruhigende Erkenntnis. Wenn wir sie ernst nehmen, dann sind wir aufgefordert, uns auf das Abenteuer eines "Denkens ohne Geländer", eines radikalen Perspektivenwechsels einzulassen. Ein Wagnis? Ja, aber ein Lohnendes! Um es mit Paul Parin zu sagen: "Wenn es uns gelingt zu zeigen, dass es auch anders geht, haben wir schon viel erreicht." Doris Gödl

Klappentext:

Im neuen Zeitalter der Mauern und Grenzen, in einer mit Internierungslagern für Flüchtlinge übersäten Welt, spricht sich Di Cesare für eine Politik der Gastfreundschaft aus, die sich auf eine Loslösung vom eigenen Wohnort gründet, und umreisst auf diese Weise einen neuen Sinn des Zusammenwohnens in unserer globalisierten Welt.

In der immer noch vom Nationalstaat beherrschten politischen Landschaft sind Migranten die Unwillkommenen und werden beschuldigt, fehl am Platz zu sein, anderen ihren Ort streitig zu machen. Es gibt jedoch kein territoriales Recht, das eine Politik der verallgemeinerten Zurückweisung rechtfertigen könnte.

Im Rahmen einer Ethik, die auf globale Gerechtigkeit ausgerichtet ist, reflektiert die italienische Philosophin Donatella Di Cesare luzide die grundlegende Bedeutung des Migrierens und stellt erneut ihre Fähigkeit unter Beweis, in Auseinandersetzung mit analytischen und phänomenologischen Ansätzen direkt in das Herz der Frage zu treffen: Wohnen und Migrieren bilden keine Gegensätze, wie der in den Fängen der alten Gespenster von Blut- und Bodenrecht begriffene Gemeinsinn meint. In einem jeden Migranten ist die Figur des "Ansässigen Fremden" zu erkennen, dem wahren Protagonisten dieses Buches.

Di Cesare nimmt die Herausforderung an, die von der Migration für jegliches Verständnis von Gemeinschaft ausgeht, und entdeckt dabei Möglichkeiten, das Zusammenwohnen neu zu denken.

Über die Autorin / über den Autor:

Donatella Di Cesare, 1956 in Rom geboren, lehrt und forscht als Professorin für Theoretische Philosophie an der Universität La Sapienza in Rom. Sie war die letzte Schülerin von Hans-Georg Gadamer und gehört zu den präsentesten und engagiertesten Intellektuellen in Italien und Europa. Ihre Bücher und Essays wurden in mehr als zehn Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien bei Matthes & Seitz Berlin Von der politischen Berufung der Philosophie.
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Daniel Creutz, 1978 in Frankfurt am Main geboren, studierte Philosophie und Geschichte in Freiburg, Krakau und Neapel. Er war Mitarbeiter am Husserl-Archiv in Freiburg und lebt seit 2010 u.a. als Übersetzer, Herausgeber, Kulturvermittler und gelegentlicher Autor zwischen Rom und Neapel.

Preis: CHF 35.50
Sprache: Deutsch (aus dem Italienischen von Daniel Creutz)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2021 (2017)
Verlag: Matthes & Seitz
ISBN: 978-3-7518-0317-5
Masse: 343 S.

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