Zeina Abirached, Mathias Enard

Zuflucht nehmen

Ein Buch zum Verweilen, diese Graphic Novel in Schwarz-Weiss, zum Betrachten und zwischendurch Zurückblättern: Dieser Nachthimmel über Afghanistan, der sich über zwei Buchseiten erstreckt, war da nicht schon das Sternbild Orion zu sehen, das später Anlass zu nächtlichen Gesprächen gibt? Es ist eine andere Form des Lesens, schneller, weil man eine Situation am Ausdruck von zwei Gesichtern rasch erfasst, gemächlicher aber auch, weil die einfachen, holzschnittartigen schwarz-weissen Bilder viele Details verstecken, weil die grossflächigen Darstellungen mit ihren oft ornamentalen Flächen wunderschön anzusehen sind.

Zeina Abariched, libanesisch-französische Zeichnerin fasziniert mit einer graphisch grosszügigen und gleichzeitig reduzierten Bildsprache, deren orientalische Wurzeln unschwer zu erkennen sind. Mit ihrem 2015 erschienenen Band Piano oriental gewann sie den Phenix Literaturpreis und wurde für das Comic-Festival in Angoulême ausgewählt. An der Beiruter Buchmesse traf sie auf Mathias Énard, den französischen Orientalisten und Schriftsteller, der dort seinen Roman Kompass vorstellte. Dem roten Faden einer komplizierten Liebesbeziehung entlang leuchtet er darin die Vielfalt und historische Tiefe der Beziehungen zwischen Orient und Okzident aus. Rasch fassten die beiden die Idee, zusammen ein Buch zu machen. Gemeinsam entwickelten sie das Szenario, Énard steuerte den sehr sparsamen, konzisen Text bei, Abirached versetzt uns mit ihren Bildern in zwei unterschiedliche Welten: Afghanistan im Jahr 1939 und das heutige Berlin.

Es sind zwei Liebesgeschichten, die sich verweben. Die zwei Schweizer Schriftstellerinnen Ella Maillart und Annemarie Schwarzenbach reisen mit einem kleinen Ford bis nach Afghanistan, auf der Suche nach Abenteuern und vielleicht auch einfach einem Ort der Zuflucht und des inneren Friedens. In Bamyan, dem Tal der riesigen, anfangs dieses Jahrtausends von den Taliban zerstörten Buddhastatuen, treffen sie auf das englische Archäologenehepaar Hackin, bei dem sie einige Tage bleiben. Zwischen Annemarie und Ria Hackin entwickelt sich eine subtile Zuneigung, die jedoch, kaum aufgeblüht, brutal abgebrochen wird durch den Ausbruch des zweiten Weltkriegs, den die vier am Radio vernehmen. In Eile müssen sie diesen magischen Ort verlassen. In Berlin lernt Karsten, auch er irgendwie auf der Suche, Neyla kennen, die aus dem zerstörten Aleppo nach Deutschland geflohen ist und die beiden verlieben sich. Doch während er schon von der Hochzeit träumt, ist Neyla vom Trauma des Krieges und ihrem Heimweh zerrissen. Sie hat Angst vor diesem neuen Land, dieser neuen Stadt, wo die Menschen ihr nicht in die Augen schauen. "Ich wollte Zuflucht finden in dir, schreibt sie ihm, aber mein verlorenes Land schlägt in mir. Ich kann dich hier nicht lieben."

Zuflucht suchen, Zuflucht finden: Das Thema von Prendre refuge sind verschiedene Facetten dieses tiefen menschlichen Wunsches: Zuflucht im Buddhismus, in einer Liebesbeziehung, in einem friedlichen Land. Doch wirklich möglich scheint das in unserer zerissenen Welt immer nur für eine kurze Weile zu sein. Elisa Fuchs

Klappentext:

Afghanistan, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. In einer sternenklaren Nacht, zu Füssen der Buddha-Statuen von Bamiyan, verliebt sich die Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach in eine Archäologin. Es ist die Nacht, in der Deutschland Polen überfällt und die Welt für Jahre in Chaos versinkt.
Berlin, 2016: Karsten, der sich für die Sprachen und Kulturen des Nahen Ostens begeistert, trifft in Berlin auf Nayla, eine syrische Geflüchtete, die sich mehr schlecht als recht durch Alltag und Behördenwirrwarr ihrer neuen Wahlheimat manövriert. Die beiden kommen sich näher, eine zarte Liebe entsteht.
Anhand dieser beiden ungewöhnlichen, in sich verschachtelten Liebesgeschichten erzählen der Schriftsteller Mathias Énard und die Comicautorin Zeina Abirached, wie schwierig es ist, die Grenzen im Kopf und zwischen den Menschen aufzulösen und zu vereinen, was Tradition und Geschichte getrennt haben. Und sie erzählen von der Herausforderung, zu lieben und sich zu öffnen, ob gestern oder heute, ob in Kabul oder in Berlin.

Über die Autorin / über den Autor:

Mathias Énard ist Schriftsteller, Orientalist und Übersetzer und lebt zur Zeit in Barcelona. Geboren wurde er 1972 in Niort im Südwesten Frankreichs, er studierte Arabisch und Persisch in Paris, lebte unter anderem in Damaskus, Beirut und Teheran. Seine Bücher umkreisen thematisch immer wieder die Verbindungen des "Orient" und "Okzident" und er sieht sich selbst als Brückenbauer zwischen den vermeintlich getrennten Kulturkreisen. Für seinen letzten Roman – auch auf Deutsch erschienen – erhielt er den renommierten Prix Goncourt. In Deutschland hat er 2017 den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung bekommen.

Zeina Abirached wurde 1981 in Beirut geboren. Mit Anfang 20 zog sie nach Paris, wo sie heute noch lebt und arbeitet. Sie hat eine Reihe autobiographischer Graphic Novels und Kurzcomics veröffentlicht, in denen sie ihrer Kindheit im Libanon und ihrer Familiengeschichte nachspürt. Das Spiel der Schwalben ist ihre erste deutsche Veröffentlichung aus dem Jahr 2013, gefolgt von Ich erinnere mich von 2014. Im September 2016 erschien ihr Buch Piano Oriental, eine Mischform aus Biografie und Autobiografie. Im Jahr 2019 wurde mit Zuflucht nehmen  ihr gemeinames Projekt mit dem bekannten französischen Autoren Mathias Énard veröffentlicht. 

Preis: CHF 41.50
Sprache: Deutsch
Art: Broschiertes Buch
Erschienen: 2019 (2018)
Verlag: avant-Veralg
ISBN: 978-3-96445-020-3
Masse: 345 S.

zurück