Germaine Tillion

Die gestohlene Unschuld

Ein Leben zwischen Résistance und Ethnologie

Eine Entdeckung, die ich mille et deux feuilles verdanke: Germaine Tillion, Ethnologin und Sozialwissenschaftlerin, eine eindrückliche, faszinierende Frau, die schon in den 1930er Jahren mit grosser Selbstverständlichkeit für sich in Anspruch nahm, ein eigenständiges Leben zu führen. 1907 in Frankreich geboren, studierte sie in Paris Ethnologie und verbrachte zwischen 1934 und 1940 mehrere längere Forschungsaufenthalte im Aurès-Gebirge in Algerien. Nach ihrer Rückkehr nach Paris, 1940, engagierte sie sich im Widerstand gegen die deutsche Besatzung. 1942 wurde sie verhaftet und ein Jahr später ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg widmete sie sich der Aufklärung der deutschen Kriegsverbrechen, versuchte in inoffizieller Mission im französisch-algerischen Krieg zu vermitteln und engagierte sich bis zum Ende ihres langen Lebens für die Bekämpfung von Folter und Menschenrechtsverletzungen weltweit sowie die Emanzipation der Frauen im Mittelmeerraum.

Die im Buch – im Original "Fragments de vie" – versammelten Texte von Germaine Tillion, sind konkret und lebensnah geschrieben. Manchmal blitzt auch Humor und leise Selbstironie auf. In ihrer sehr persönlichen, die eigene Subjektivität einbeziehende und auf länger dauernde und in die Tiefe gehende Beziehungen aufbauenden Herangehensweise in ihrer ethnologischen Forschung ist sie den Erkenntnismethoden der Sozialwissenschaft ihrer Zeit weit voraus. Sie lebt mit den Chaouis, dem Berbervolk, das sie erforscht. Während sie beim ersten Aufenthalt noch mehrere Maultiere, beladen mit Unterlagen und Vorräten mitführte, hat sie beim letzten kein einziges Buch mehr dabei und isst, was es jeweils zu essen gibt. Dies ohne sich anzubiedern, ihrer Fremdheit innerhalb der relativ homogenen und hierarchisch strukturierten Gemeinschaft bewusst. Ihr Anliegen ist es, die Sachverhalte wirklich zu verstehen, bevor sie diese irgendwo einordnet, dem Andern unvoreingenommen und respektvoll zu begegnen. Eines der vier Gebote, die für die ethnologische Forschungsarbeit definiert lautet: "Wählt euch vornehme Menschen und behandelt sie vornehm."

Von der Besatzung Frankreichs erfährt sie erst, als sie auf ihrer Rückkehr 1940 zum ersten Mal wieder in einen grösseren Ort mit Radioverbindung kommt. Es ist für sie absolut selbstverständlich, dass sie sich im Widerstand gegen das Naziregime engagiert. Sie wird Leiterin der Gruppe der Résistance, die sich im Musée de l’Homme bildet und vor allem in der Informationsbeschaffung und der Fluchthilfe tätig ist. Ihre Motivation ist weniger politisch als humanistisch und patriotisch. Sie muss die Hinrichtung naher Gefährten erleben und wird schliesslich selber verhaftet und deportiert. Ihre extremen Erfahrungen im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück schildert sie mit grosser Sensibilität und ohne Selbstmitleid. Das Manuskript ihrer Dissertation, das sie mit sich nahm, wurde ihr sofort abgenommen und ist unwiederbringlich verschwunden. Hingegen überlebte ein Text, den sie in einem Kistenversteck im KZ schrieb: das Libretto für eine makaber-komische Operette Le Verfügbar aux Enfers. Thema ist das Leben der "Verfügbaren" im KZ, der untersten Kategorie von Gefangenen, die je nach Bedarf für die verschiedensten und unbeliebtesten Arbeiten eingesetzt wurden. 2007, zu Germaine Tillions 100. Geburtstag wurde die Operette in Paris uraufgeführt. Germaine Tillion überlebte Ravensbrück – was sie nicht auf ihren Überlebenswillen, sondern auf glückliche Umstände und ein freundschaftliches Netzwerk im Lager zurückführt. Noch vor dem Einmarsch der Alliierten wurde sie durch einen Transport des schwedischen Roten Kreuzes gerettet.

Nach dem Krieg ist ihr die Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus und der jüngsten Zeitgeschichte das vordringende Anliegen. Sie beschliesst, die Ethnologie aufzugeben und wechselt innerhalb des nationalen Forschungsrates von der Ethnologie zur Zeitgeschichte. Dass auch ihr eigenes Land im Unabhängigkeitskrieg Algeriens schwere Menschenrechtsverletzungen begeht, ist für sie schockierend und inakzeptabel. Als Algerienkennerin von der französischen Regierung Mitte der 1950er Jahre nach Algerien geschickt, setzt sie sich vehement gegen Folter und Hinrichtungen ein. Sie hat geheime Treffen mit Anführern des FLN, und versucht sie zu überzeugen, die Spirale der Gewalt zu unterbrechen. Doch ihre Bemühungen um eine Beendigung der ständigen Eskalation von Attentaten und Hinrichtungen misslingen, weil die französische Seite nicht bereit ist "diesen stupiden und barbarischen Mechanismus" aufzugeben.

Das Besondere, das Eindrückliche an Germaine Tillions Zeitzeugnissen ist die Verbindung von persönlicher Erfahrung und wissenschaftlicher Analyse. Schon früh hatte sie erkannt, dass es Objektivität in den Sozialwissenschaften nicht gibt: "Das ganze Konstrukt unserer Gelehrsamkeit erinnert an die Noten einer Partitur und unsere menschliche Erfahrung ist die Klangpalette ohne die das Musikstück stumm bliebe." Man spürt die Zuwendung, die Liebe zu den Menschen in ihren Texten. Dass sie sich dabei als persönlich völlig unabhängige Frau versteht und ihr privates Leben keine Erwähnung findet, gehört zum Selbstverständnis einer Frau ihrer Zeit, die sich ihren Platz in Wissenschaft und Öffentlichkeit schuf. Elisa Fuchs

Klappentext:

Die gestohlene Unschuld versammelt erstmals zentrale Texte von Germaine Tillion. Eindrücklich erzählt die Ethnologin und Widerstandskämpferin von ihrem Leben in Algerien zwischen 1934 und 1940, dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Frankreich, ihrer Deportation nach Ravensbrück sowie von ihrem Einsatz für die Unabhängigkeit Algeriens in den fünfziger Jahren.

Übersetzt, herausgegeben und mit einem einführenden Esssay von Mechthild Gilzmer. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Tzvetan Todorov.

Über die Autorin / über den Autor:

Germaine Tillion (1907-2008), eine der bedeutendsten intellektuellen Pesönlichkeiten Frankreichs, war massgeblich an wichtigen Ereignissen der deutsch-französischen und der franko-algerischen Geschichte im 20. Jahrhundert beteiligt.

Preis: CHF 31.90
Sprache: Deutsch (aus dem Französischen von Mechthild Gilzmer)
Art: Gebundenes Buch
Erschienen: 2015 (2009)
Verlag: Aviva
ISBN: 978-3-932338-68-7
Masse: 330 S.

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