Algerien hat eine unglaublich reiche Geschichte und Kultur. Geographisch gar nicht so weit entfernt scheint das Land doch in einer anderen Welt zu liegen. Wir laden mit diesem Themenschwerpunkt dazu ein, Algerien, seine Geschichte und vor allem seinen beschwerlichen Kampf in die Unabhängigkeit kennenzulernen. Während des Arabischen Frühlings sind die Menschen hier ruhig geblieben – zu nahe waren noch die Erinnerungen an das Schwarze Jahrzehnt. Aber seit dem Februar 2019 setzen sich auch die Algerier*innen zur Wehr gegen eine korrupte und verkrustete Politik ohne Perspektiven.
Hafen von Algier © Andrea Peterhans
Maya Ouabadi ist 1988 in Algier geboren, wo sie heute noch lebt und arbeitet. Nach dem Studium der französischen Literatur hat sie sechs Jahre für den Verlag Barzakh gearbeitet, bevor sie sich als Verlegerin selbstständig machte. Schon seit ihrer Zeit bei Barzakh ist sie Teil des Kulturvereines Chrysalide und des Organisationskomitees für den Auftakt der Literatursaison in Mali. 2018 hat sie die Editions Motifs gegründet, die unter anderem die zweisprachige (französisch-arabisch) Literaturzeitschrift "Fassl" veröffentlichen, die Textkritiken, Gespräche und Porträts von algerischen und ausländischen Autor*innen, ebenso wie unveröffentlichte Texte, vorlegt.
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Als die Phönizier um 1250 v. Chr. die Nordküste Afrikas besiedelten, trafen sie auf die Imazighen, die freien Menschen, wie sich die in der Region lebenden Berber selber nannten. Die berberische Bevölkerung teilte sich in ganz unterschiedliche, auf Clanzugehörigkeit basierende Gemeinschaften auf, Nomaden, sesshafte Bauern, mit unterschiedlichen Traditionen und Sprachen. Unter den numidischen Königen begannen sie mit den Phöniziern Handel zu treiben. Ein Fenster zur damaligen Welt öffnen Boualem Sansal in Maghreb – eine kleine Weltgeschichte und Barnaby Rogerson in In Search of Ancient North Africa. Rogerson beschreibt anschaulich das Leben in den phönizischen Städten, wie sich die Römer mit Hilfe des Numiderkönigs Massinissa gegen die Phönizier behaupten konnten, wie Numidien schliesslich als römische Provinz dem Imperium einverleibt wurde und wie Augustinus in Nordafrika die römisch-katholische Kirche geprägt hat. 534 n.Chr. übernahm Byzanz die Herrschaft über das nordafrikanische Küstengebiet.
Im 8. Jh. eroberten die Omayaden aus Arabien die nordafrikanischen Gebiete und führten den Islam ein. Mit Unterstützung der Berberkönige eroberten sie weite Teile der iberischen Halbinsel und begründeten die Hochkultur der andalusischen Königreiche, mit prachtvollen Bauten und Universitäten. Nach dem Zusammenbruch des Omayadenreiches um 750 n.Chr. folgten die schiitischen Fatimiden, die eine Arabisierung der nordafrikanischen Küstengebiete eingeleitet haben. Diese wiederum wurden von den muslimischen Berber-Dynastien der Almoraviden und der Almohaden abgelöst. Nach dem Zerfall des Almohadenreiches im 13. Jh. entstanden drei getrennte Königreiche, unter denen die Berber und die Araber in relativer Stabilität und gegenseitiger Toleranz zusammenlebten. Es war eine Zeit der kulturellen Blüte, Handel wurde mit Pisa, Genua und der Provence getrieben. Im 15. Jh. wurde die Reconquista des arabischen Andalusiens durch die katholischen Könige mit dem Fall Granadas abgeschlossen. Während der Reconquista wurden die muslimischen und jüdischen Menschen aus Spanien vertrieben und viele wanderten nach Marokko und Westalgerien aus.
Seit dem frühen 16. Jh. begann die Herrschaft der Osmanen in Nordafrika, das für 300 Jahre ein Teil des osmanischen Reiches wurde und seine Haupteinnahmen aus dem Sklavenhandel bezog. Der Sultan von Konstantinopel setzte Paschas ein, von 1659-1830 regierten gewählte Deys, Kommandanten der Janitscharen-Truppen. In dieser Zeit waren die Berber im Inneren des Landes praktisch selbstständig. Waciny Laredj beschreibt im Roman La maison andalouse anschaulich die Geschichte einer Familie nach der Vertreibung aus Andalusien unter der Herrschaft der Osmanen. Und in seinem sehr spannenden Essay Algérie, la nation entravée analysiert Mohamad Sadoun die Art der Beziehungen zwischen den Berbern und den osmanischen Besetzern.
1830 fiel Frankreich in das von 3 Mio. Menschen besiedelte Algerien ein. Die Siedler, zu Beginn vor allem aus Italien und Spanien, liessen sich auf den besten Ländereien nieder, Algier, Oran und Constantine wurden per Gesetz dem französischen Mutterland zugeschlagen. 1832 erhoben sich die Algerier erfolgreich unter der Führung von Abd el Kader gegen die Franzosen. Die in der Folge abgeschlossenen Friedensverträge wurden bald wieder von Frankreich n gebrochen, und der Krieg gegen Algerien wurde neu entfacht – und zwar um jeden Preis. In L'amour, la fantasia beschreibt Assia Djebar in einer Art Auto-Fiktion die Ankunft der Franzosen in Algerien, das 1847 ganz unter französische Kontrolle geriet. 1848 lebten hier bereits 100'000 europäische Zivilisten. Wie sich das Leben der Berber in den ländlichen Regionen durch die neuen Siedler verschlechterte und wie die Einheimischen unausweichlich in die Armut getrieben wurde, zeigt Mohamed Dib eindrücklich im Roman L'incendie. Ebenfalls einen spannenden Blick auf die Kolonialgeschichte wirft der in Algerien geborene Jacques Ferrandez in den ersten fünf Bänden seiner Graphic Novel Carnets d’Orients.
Die muslimischen Algerier wurden von Frankreich quasi entmündigt. Wahl- und Bürgerrechte hatten nur die europäischen Siedler und, aufgrund des 1870 erlassenen Décret Crémieux, die jüdischen Algerier. Das Schicksal der meist sephardischen jüdischen Gemeinschaften beschreibt der Historiker Benjamin Stora in Les trois exils. Juifs d’Algérie eindrücklich. In Valérie Zenattis Roman Jacob, Jacob begegnen wir einer jüdischen Familie in Constantine vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Kaouther Adimi hat der Buchhandlung "Nos richesses", gegründet von Edouard Charlot in den 30/40er Jahren in Algier, und dem Versuch, einen Austausch auf Augenhöhe zwischen Algeriern und Franzosen zu fördern, mit Was uns kostbar ist ein Denkmal gesetzt. Seit Beginn des 20. Jh. haben sich verschiedene algerische Bewegungen und Parteien für die Besserstellung der muslimischen Bevölkerung eingesetzt. Doch die sozialen Unterschiede zwischen ihr und den europäischen Siedlern wurden immer eklatanter und nach dem Ende des 2. Weltkrieges kam es zu Unruhen in Sétif, die auf brutale Weise von den französischen Streitkräften niedergeschlagen wurden.
1954 begann der Front National de la Libération (FLN) den bewaffneten Kampf gegen die Franzosen, der in einen äusserst gewaltsam geführten Unabhängigkeitskrieg mündete, mit Bombenanschlägen und Attentaten und auf der einen und mit Repression und Folter auf der anderen Seite. 1962 fand er mit der Unterzeichnung der Verträge von Evian ein Ende. Mohamed Dib beschreibt den Unabhängigkeitskrieg in seinem phantastischen Roman Und ich erinnere mich an das Meer. Malika Mokeddem führt uns in Die blauen Menschen zu einer sesshaft gewordenen Nomadin, die durch die Kolonialisierung ihre Traditionen verloren hat. Dieser lesenswerte Roman thematisiert auch die Stellung der Frau, der zwar während des Unabhängigkeitskampfes viele Rechte zugestanden wurden, diese ihr im unabhängigen Staat aber gleich wieder aberkannt wurden. Auch die Graphic Novel von Swann Merally, Algériennes, stellt die Frauen während des Unabhängigkeitskampfes in den Mittelpunkt. Der sehenswerte Film von Gillo Pontecorvo, La bataille d'Alger, zeigt die Jahre 1955/56, als der FLN Bombenanschläge auf französische Einrichtungen und Zivilisten in Algier verübte und wie daraufhin französische Fallschirmjäger den Kampf gegen den FLN in der Kasbah von Algier aufnahmen.
Auch die Algerienfranzosen wehrten sich erbittert, und zwar für ein französisches Algerien. Mit ihrer Organisation de l'Armée secrète (OAS), mit Aktionen wie der Woche der Barrikaden und einem Putsch in Algier, versuchten sie, die Unabhängigkeit Algeriens zu verhindern. Vor diesem Hintergrund spielt der Krimi von Maurice Attia, Alger la Noire. Es gab auch linke Algerienfranzosen, wie Fernand Iveton, der auf Seiten des FLN kämpfte und vom französischen Staat zum Tode verurteilt worden ist. Joseph Andras zeichnet sein Leben im Roman Die Wunden unserer Brüder nach. Nach der Unabhängigkeit von Algerien haben fast alle der ca. 1,4 Mio. europäischstämmigen Franzosen das Land verlassen. Als pieds-noirs gelangten sie nach Frankreich, wo sie aber kaum Unterstützung erhielten, ja sogar verachtet wurden. Alexis Jenni bringt uns im Roman Féroces infirmes auch die Erfahrungen und Verletzungen der im Unabhängigkeitskrieg kämpfenden französischen Soldaten näher.
Im unabhängigen Algerien wurden die Harkis, die vor allem in den Hilfstruppen gedient hatten und als Kollaborateure galten, Opfer von Gewalt. De Gaulle persönlich lehnte es ab, ihnen zu helfen. Trotzdem gelang 100’000-260'000 Menschen die Flucht nach Frankreich. Aber bis zu 50'000 Harkis verloren in Algerien ihr Leben. In Die Kunst zu verlieren erschafft Alice Zeniter ein faszinierendes Familienporträt vom Grossvater, der mit seiner Familie als Harki aus Algerien flieht, über ihre Internierung in Lagern in Frankreich, bis zur Rückkehr der Enkelin nach Algerien. Kamel Daoud formuliert in seinem herausragenden Buch, Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung, einerseits eine Antwort auf Albert Camus' Der Fremde, andererseits auch auf das Verhältnis zwischen Algeriern und Franzosen.
Ahmed Ben Bella, Mitbegründer der FLN und von 1956-1962 in Frankreich inhaftiert, wurde 1963 der erste Staatspräsident von Algerien. Seine Vision war ein sozialistisches Algerien, mit einer Agrarreform, der Verstaatlichung der Produktionsmittel und einer Rückkehr zu arabischen und islamischen Werten. 1965 wurde er von Houari Boumedienne, seinem Verteidigungsminister und FLN-Kommandant während des Krieges, gestürzt. Boumedienne hat die Industrialisierung des Landes weiter vorangetrieben und gilt als Schöpfer des modernen Algeriens. Welch revolutionärer Geist und welche Aufbruchsstimmung in Algier in den 60er und 70er Jahren geherrscht haben, beschreibt Elaine Mokhtefi, die als Amerikanerin und Sozialistin nach Algier kam, in Algiers, Third World Capital. Boumediennes Nachfolger, Chadli Benjedid, ebenfalls aus dem Militär hervorgegangen, sah sich zunehmenden Problemen gegenüber, wie hoher Arbeitslosigkeit und genereller Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Nach schweren Ausschreitungen 1988 leitete er eine Demokratisierung der Gesellschaft und eine Entmachtung des FLN-Parteiapparates ein. Tahar Djaout widerspiegelt in seinem sehr lesenswerten Roman, Les vigiles, den Zustand einer Gesellschaft, die sich selber blockiert hat. Mit der Demokratisierung etablierten sich verschiedene Oppositionsgruppen, darunter auch der Front Islamique du Salut (FIS), der sich für eine Arabisierung des Landes und die Einführung islamischer Gesetze einsetzte. Der FIS gewann 1991 die ersten freien Wahlen, aber das Militär zwang Benjedid zum Rücktritt, erklärte die Wahlen für ungültig und verbot den FIS. Das markierte den Beginn des Bürgerkrieges, der als das Schwarze Jahrzehnt bezeichnet wird. 1991 bis 2002 war geprägt vom Terror fundamentalistischer Gruppen und der brutalen Antwort des Militärs. Die wirtschaftliche Entwicklung kam völlig zum Erliegen. Sprachgewaltig beschreibt Mustapha Benfodil in Alger. Journal intense die Aufstände von 1988 und 1995 und deren Spuren, die bis heute in den Köpfen der Menschen weiterleben. Der 1999 gewählte Präsident Abdoulaziz Bouteflika verfolgte eine Politik der nationalen Aussöhnung, die zum Ende des Bürgerkrieges führte. Doch das Leben in Algerien ist weiterhin von grosser Frustration geprägt, wie dies der Film Les Bienheureux von Sofia Djama dokumentiert.
Jours tranquilles à Alger versammelt die Kolumnen der beiden JournalistInnen, Adlène Meddi und Mélanie Matarese, die ein schönes Stimmungsbild der Jahre 2012-2016 wiedergeben. In Dezemberkids arbeitet Kaouther Adimi die Konfliktlinien heraus, die 2019 den Unmut der Bevölkerung explodieren lassen: Korruption, verkrustete Institutionen, mangelnde wirtschaftliche Entwicklung. Nach der Wiederwahl von Abdoulaziz Bouteflika kam es zu massiven, aber gewaltfreien Protesten – dem Hirak, der Bewegung – die von Februar 2019 bis März 2020 jeden Freitag andauerten. Nach dem Rücktritt Bouteflikas forderten die Protestierenden grundlegende Veränderungen des politischen Systems. In seinem Essay Algérie, la nation entravée analysiert Mohamed Sadoun die strukturellen Voraussetzungen für eine solche Massenmobilisierung. Im März 2020 stoppte die Corona-Pandemie alle Demonstrationen, und der Staat hat in den letzten Monaten zahlreiche Aktivist*innen drangsaliert und inhaftiert. Aber seit Ende Februar 2021 ist der Hirak wieder zurück – mit Massendemonstrationen in vielen Städten und Regionen Algeriens.
Nebst Büchern und Filmen gehört auch die Musik zum lebendigen Kulturgut Algeriens, im Speziellen hörenswert sind die verschiedenen Raï-Interpret*innen, von Cheikha Rimitti (1950er-Jahre) bis zur Raï-Musik eines Cheb Khaled in den 80er Jahren. Wunderschön auch die Musik von Mazouni, der arabische Harmonien mit französischen Chansons verschmelzt. Ebenfalls berührend ist die judäo-arabische Tradition der Berbermusik.
Hier finden Sie noch weitere Empfehlungen von uns zu Büchern aus und über Algerien:
Und auf unserer Algerienseite präsentieren wir noch weitere Bücher, Filme und Musik.
Ägypten fesselt, packt, gibt Rätsel auf, verwirrt und fasziniert zugleich. Unsere Assoziationen reichen vom pharaonischen Ägypten mit seinen Pyramiden und der Sphinx, über den Suezkanal und den Staudamm in Assuan bis zum ägyptischen Frühling 2011, der den Sturz Hosni Mubaraks zur Folge hatte. Wie sich das eine mit dem anderen verbindet, wieviel Pharaonisches heute noch bleibt und wie es zum Sturz Mubaraks kommen konnte, haben wir in den Büchern gesucht und auch an vielen Orten gefunden.
Wir stellen hier eine Auswahl an Büchern vor, die in besonders interessanter Weise Ägypten beleuchten – seine Geschichte, aber auch das Lebensgefühl seiner BewohnerInnen wie auch die immensen Widersprüche dieses Landes.
Zum aktuellen kulturellen Leben in Ägypten wird in den nächsten Monaten Mariam Ibrahim, Journalistin, Autorin, Kunstschaffende aus Kairo und Alexandria berichten.
Alexandria, Corniche © Charlotte Nager
Mariam Ibrahim hat Pharmazie studiert und arbeitet heute als unabhängige Autorin und Übersetzerin in Kairo. Vorher war sie für NGOs in Ägypten wie auch in Goa, Indien, tätig. Ihr Interesse für Theater, das Erzählen von Geschichten und Film ist verbunden mit der Suche nach und dem Staunen über die Verknüpfungen zwischen persönlichen und kollektiven Narrativen. Neben Tanzen und kulinarischen Genüssen hegt sie eine grosse Leidenschaft für das Erfinden von neuen Wörtern und das ziellose Flanieren.
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Spuren der alten ägyptischen Hochkultur reichen zurück bis ins 4. Jt. v. Chr.. Jan Assmann analysiert in seiner faszinierenden Sinngeschichte Ägyptens die sinnstiftenden Elemente der grossen Pharaonenreiche und wie diese noch heute das Selbstbild Europas beeinflussen. Das kleine Büchlein Echnaton von Hermann Schlögl befasst sich mit diesem Pharaonen, der im 14. Jh. v. Chr. eine monotheistische Religion entwickelt und eingeführt hatte. Es bietet einen guten Einstieg in die faszinierende, komplexe Kulturlandschaft des alten Ägyptens, das seine Traditionen durch alle Wechselfälle der Geschichte und unter allen unterschiedlichen Reichen (Perser, Alexander der Grosse, Ptolemäern, Römer) bis ins 1. Jh. n. Chr. bewahren konnte. Erst nach der Zeitenwende, nach wiederholten Pestepidemien, Aufständen und einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation, kehrte sich das Land von seinem alten Glauben ab. Im 7. Jh. n. Chr. eroberten die Araber Ägypten, im 13. Jh. übernahmen die Mamluken, Nachfahren von Sklaven türkischer und kaukasischer Herkunft, die Macht. Auch als 1516/17 Ägypten offiziell ein Teil des osmanischen Reiches wurde, blieben die Mamluken die eigentlichen Herrscher im Land. Gamal al-Ghitanis sehr lesenswerter Roman Seini Barakat spielt während dieser Zeit und beschreibt die repressiven und schon fast paranoiden Machtsysteme jener Epoche.
Ende des 18. Jh. hielt das napoleonische Frankreich Ägypten kurz besetzt. Nachdem die Osmanen, mit Unterstützung der Briten, das Land wieder zurückerobert hatten, etablierte sich Muhammad Ali, ein aus Makedonien stammender Befehlshaber der osmanischen Armee, als Khedive von Ägypten – ein von der Hohen Pforte verliehener Titel. Mit ihm begann die Geschichte des modernen Ägyptens und unter ihm und seinen Nachfolgern wurde der Suezkanal gebaut. Die hohen Kosten haben den Staat allerdings fast in den Bankrott getrieben, so dass der Kanal an die Briten verkauft wurde, was deren Einfluss enorm verstärkte: der Khedive wurde zum Marionettensultan. Diese Geschehnisse bilden die Kulisse des Romans Le sémaphore d’Alexandrie von Robert Solé, worin er den Werdegang des griechisch-katholischen Journalisten Maxim Touta erzählt. 1914 wurde Ägypten zum britischen Protektorat, 1922 wurde Fuad zum ersten König einer konstitutionellen Monarchie eingesetzt. Formal war Ägypten nun unabhängig. In seiner wunderbaren Kairoer Trilogie schildert Nagib Machfus das Leben des Patriarchen Abd al-Gawwad und seiner Familie, vor dem Hintergrund der nationalistischen Proteste gegen die Engländer und die darauffolgende kulturelle Blütezeit.
Tatsächlich zogen die Briten aber erst 1952 nach dem Putsch der freien Offiziere unter Gamal Abdel Nasser ab. Nasser verfolgte eine sozialistische Politik, führte Landreformen durch, unter ihm wurde der Assuan-Staudamm gebaut und der Suezkanal 1956 verstaatlicht. Der packende Roman Snooker in Kairo von Waguih Ghali, beschreibt das Kairo der 50er Jahre, aus der Perspektive der wohlhabenden und auf England ausgerichteten Oberschicht, die sich erschreckend weit vom Leben der grossen Mehrheit der Bevölkerung entfernt hatte. Eine interessante Zusammenstellung autobiographischer Texte mit dem Titel Durchsuchungen legt Latifa al-Sajjat vor; man lernt, welche Kämpfe eine Feministin im Kairo der 60er Jahre auszutragen hatte und welche Bedeutung die Gemeinschaft und das Politische für die Emanzipation jedes Einzelnen hatte. Auf die Suche nach der Vergangenheit seiner Familie macht sich Jérémy Dres in seiner Graphic Novel Si je t’oublie Alexandrie. Seine Grosseltern jüdischer Herkunft haben noch im kosmopolitischen Alexandria gelebt, mussten das Land dann aber mit dem Erstarken des ägyptischen Nationalismus und dem Krieg mit Israel wie viele andere, Armenier, Griechen, Christen, Juden, verlassen.
Auf den Tod Nassers folgte Anwar el Sadat als Staatspräsident. Nach dessen Ermordung 1981 übernahm Hosni Mubarak. Welche Folgen die Politik dieser beiden Staatspräsidenten für die breite Bevölkerung Ägyptens hatte, beschreibt Jack Shenker in seinem ausgezeichneten Buch The Egyptians sehr nachvollziehbar. Die Ungleichheiten wuchsen, eine Elite bereicherte sich, die Repression nahm immer stärker zu, ebenso die willkürliche Polizeigewalt. Im Jakubiijân-Bau beschreibt Alaa Al-Aswani unterhaltsam und überzeugend den Kosmos der BewohnerInnen eines Hauses in der Innenstadt Kairos. Mansura Eseddins Hinter dem Paradies wendet sich dem Dorf zu und gibt einen spannenden und sensiblen Einblick in das ländliche Leben und die Geschichte der Ziegelbrennerei. Youssef Rakha wiederum führt uns in seinem äusserst poetischen Roman The Crocodiles in das Milieu der Dichter, Aktivisten und Intellektuellen im Ägypten der 90er und frühen 2000er Jahre. Ein sehr bewegender Text zum Stellenwert von Individualität, auch künstlerischer Individualität, in einer Gesellschaft, die es immer schwieriger macht, seinen eigenen Weg zu gehen. Ein erschütterndes Bild der ägyptischen Gesellschaft zeichnet Ahmed Khaled Towfik in seinem Roman Utopia – eine düstere Dystopie, die in der nahen Zukunft spielt und mit den zahlreich entstandenen, abgeschotteten Wohnsiedlungen für die Reichen gar nicht so weit von der Realität entfernt ist. Ebenfalls in der Zukunft spielt die rasante Satire Women of Karantina von Nael Eltoukhy. Sein burleskes Familienepos kann auch als Kritik am korrupten Staat gelesen werden, an den verkrusteten Moralvorstellungen und als Loblied auf die Widerständigkeit kleiner Leute.
All die gesellschaftlichen Widersprüche und die immer autoritärere und skrupellosere Regierung explodierten im ägyptischen Frühling. Wie umfassend diese Proteste waren, die zum Rücktritt von Hosni Mubarak geführt hatten, liest man ebenfalls bei Jack Shenker. Omar Hamilton hat mit seiner Stadt der Rebellion ein sehr beeindruckendes Zeugnis der Proteste geschrieben, die auf diesen ersten Erfolg folgten. Wir sind mit ihm bei den Protesten gegen die Muslimbrüder, die mit Mursi 2012 die Macht übernommen hatten; und wir sind dabei, als sich nach Mursis Absetzung durch das Militär 2013 und nach der Wahl des Generalobersts Abd al-Fattah as-Sisi zum Staatspräsidenten 2014 ein Klima der Enttäuschung und Resignation ausbreitete. In dem sehenswerten Film Clash von Mohammed Diab treffen ganz unterschiedliche Menschen, die auf den Strassen Kairos am Tag nach dem Putsch gegen Mursi demonstrierten, in einem Gefängniswagen aufeinander – Muslimbrüder, Demokraten, Soldaten. Im engen Wagen werden die unzähligen Fronten im heutigen Kairo sichtbar.
Für die ÄgypterInnen spielt insbesondere Kairo eine zentrale Rolle – diese riesige Stadt, der grösste Ballungsraum auf dem afrikanischen Kontinent und in der arabischen Welt, bildet für sie den eigentlichen Kosmos. Sich in diesem chaotischen Moloch, in dem offiziell rund 20 Millionen Menschen leben, zurechtzufinden, ist schwierig. Da hilft das kleine, schön gemachte Buch Uncommon Cairo, in dem verschiedene AutorInnen ihre Lieblingsorte beschreiben und Geschichten und Erlebnisse dazu erzählen. Einen Einblick in die graphischen Landschaften Ägyptens, mit den zahlreichen Inschriften, Zeichnungen, Graffiti, auf Häusern, Bussen, Läden, gibt das reich illustrierte Buch Khatt. Egypt’s Calligraphic Landscape.
Und für die Musik aus Ägypten … nichts geht über die grosse Umm Khalthoum.
Auf unserer Länderseite von Ägypten und auf der Seite zu der ganzen Region finden Sie noch weitere Bücher, Filme und Musik.
Bosnien und Herzegowina ist in den letzten Jahrzehnten näher zu uns gerückt. Viele kennen Leute aus Bosnien und Herzegowina, waren vielleicht selber in Sarajevo in den Ferien und wissen um die Schwierigkeiten im politischen System Bosniens. Und doch ist uns Bosnien weit entfernt. Vielleicht trägt der vor mehr als zwanzig Jahren zu Ende gegangene Krieg dazu bei, dass uns bei Bosnien immer ein wenig mulmig zumute wird.
Wir finden, es ist an der Zeit, Bosnien näher anzuschauen, die vielfältigen kulturellen Produktionen, in Literatur, Musik und Film, und vor allem den Menschen, die in diesem Land leben, aufmerksam zuzuhören. Da sind wir hoch erfreut, dass wir mit Sandra Zlotrg, einer Sprachwissenschaftlerin aus Sarajevo, eine frische, junge Stimme gefunden haben, die uns in regelmässig erscheinenden Blog-Beiträgen den Alltag im heutigen Sarajevo näherbringt.
Sarajevo, Sebilj © Charlotte Nager
Worüber sprechen die Leute, was ist aktuell im Kulturbereich, welche Bücher werden gelesen, welche Filme geschaut, welche Diskussionen darüber geführt? Das haben wir Sandra Zlotrg – Linguistin, die Bosnisch/Kroatisch/Serbisch als Fremdsprache in Sarajevo unterrichtet – gefragt. Und alle drei Wochen beantwortet sie uns diese Fragen in einem neuen Blog-Beitrag. Hier geht es zu ihren Beiträgen.
Die Geschichte Bosnien und Herzegowinas ist verschlungen und wechselvoll. In den letzten Jahrhunderten bewegte sich das Land an den Grenzen zwischen dem Orient und dem westlichen Europa. In seiner heutigen Form existiert Bosnien und Herzegowina seit 1995, vorher war es immer Teil von einem grösseren Gebilde. Um einen Überblick über die überaus spannende Geschichte der ganzen Region Südosteuropas zu erhalten, hat uns Südosteuropa. Geschichte einer Weltregion von Marie-Jeanne Calic grosse Dienste erwiesen. Auf spannende und sehr lesbare Art und Weise beschreibt sie die Geschichte der gesamten Region und setzt diese auch in Bezug zu Europa und den globalen Entwicklungen. Wer es kürzer und doch präzise will, dem sei die Geschichte des Balkans von Edgar Hösch oder The Balkans. A Short History von Mark Mazower empfohlen. Beides grosse Kenner des südosteuropäischen Raumes.
Die schillernde Geschichte des Landes lässt sich auch in der Literatur aus dem Land nachlesen. Der in Travnik, einer ländlichen bosnischen Kleinstadt, geborene Nobelpreisträger Ivo Andrić lässt in Die Brücke über die Drina aus der Perspektive der Stadt Višegrad die Geschichte des Landes, beginnend mit der osmanischen Zeit bis in die Neuzeit, vorbeiziehen. In Wesire und Konsuln berichtet der österreichisch-habsburgische Konsul über sein Leben in Travnik, über den Umgang mit dem osmanischen Wesir, mit den muslimischen und christlichen Bauern. In dieser Zeit spielt auch Muharem Bazdulj’s Roman Der Ungläubige und Zulejha, wo Lord Byron auf einer Reise durch Bosnien einem jüdischen Arzt begegnet und mit ihm über die Unterschiede zwischen Ost und West sinniert.
Auf den langsamen Zusammenbruch des osmanischen Reiches folgt die vierzigjährige Besetzung Bosniens durch das österreichisch-habsburgische Reich und die Erstarkung zahlreicher nationalistischer Bewegungen und Forderungen in ganz Südosteuropa. In seinem atemberaubenden Roman Die unerhörte Geschichte meiner Familie führt uns Miljenko Jergović – auf den Spuren seiner Familie – unter anderem in die Zeit des österreichischen Imperiums, insbesondere zum Eisenbahnnetz, das damals die verschiedenen Teile des Reiches miteinander, aber auch mit Europa verband. Mit dem Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau 1914 in Sarajevo wurde der erste Weltkrieg ausgelöst und die Welt ins Chaos gestürzt. Für Bosnien begann damit ein sehr langes Jahrhundert von Kriegen. Mit dem Ende des ersten Weltkrieges entstand 1918 das Königreich der Kroaten, Serben und Slowenen, ab 1929 das Königreich Jugoslawien, dem bis zum zweiten Weltkrieg auch Bosnien angehörte. Mit dem Zweiten Weltkrieg wurde Bosnien kurzzeitig in den faschistischen Ustascha-Staat von Ante Pavelić integriert, dessen Auswirkungen auf die jüdische Bevölkerung Sarajevos auch in Miljenko Jergović's Texten zornige Erwähnung finden. Nach dem zweiten Weltkrieg einte Tito die jugoslawischen Teilrepubliken im Sozialistischen Jugoslawien. Nach dieser Phase der wirtschaftlichen Entwicklung und des relativen Wohlstands führte Titos Tod bald zur Auflösung der Föderation und schliesslich zum Bosnienkrieg, als Bosnien und Herzegowina die Loslösung aus Milošević’s Jugoslawien ankündigte. Aufgerieben zwischen Kroatien und Serbien hat Bosnien die grössten Opfer erlitten während dieses Krieges, der von 1992 bis 1995 dauerte und mit dem Dayton-Abkommen seinen Abschluss fand. Die dreijährige Belagerung Sarajevos ist uns wohl noch heute im Bewusstsein, wie auch die unermessliche Tragödie von Srebrenica. 8000 muslimische Männer und Jugendliche wurden von der Armee der serbischen Bosnier vor den Augen der UNO-Blauhelme ermordet. Emir Suljagic schildert die Erlebnisse aus Srebrenica in erschütternder Weise in Srebrenica – Notizen aus der Hölle (leider vergriffen). Die amerikanische Journalistin Barbara Demick hat während der Belagerung Sarajevos die Bewohnerinnen und Bewohner der Logavina Strasse begleitet und deren Geschichten porträtiert. Sie gibt mit Besieged ein eindrückliches Bild der Lebensumstände der Bewohner und Bewohnerinnen von Sarajevo während dieser Belagerung und lässt die daraus entstandenen Verletzungen erahnen. In seiner Graphic Novel Bosnien zeichnet Joe Sacco auf eingängige Weise das Schicksal von Gorazde, dieser ebenfalls vom Umland abgeschnittenen Enklave im Drinatal nach. Einen überaus poetischen Roman hat Alma Lazarevska mit Im Zeichen der Rose über dieses so tragische Jahrhundert geschrieben.
Seit dem Kriegsende versucht Bosnien und Herzegowina ein funktionierendes politisches System aufzubauen. Mit der Teilung des Landes in die Republika Srpska und der Konföderation von Bosniaken und Kroaten im restlichen Land und einer Regierung, wo alle Teile des Landes Entscheide blockieren können, ist das nicht einfach. Und die verschiedenen Bevölkerungsgruppen scheinen sich weiter auf sich selbst zurückzuziehen ... Diese Nachkriegszeit und die tiefen Wunden, die der Krieg hinterlassen hat, zeigen sich in den Erzählungen von zeitgenössischen Autorinnen und Autoren, die im Band Bibliothek Sarajevo versammelt sind. Im Gedenken an die während des Krieges zerstörte bosnisch-herzegowinische Nationalbibliothek in Sarajevo, der Vijećnica, haben aktuelle Autorinnen und Autoren, unter anderen Saida Mustajbegović, Faruk Šehic, Nenad Veličković und Lejla Kalamujić, Texte beigesteuert. In Tierchen Unlimited schildert Tijan Sila wie die Wunden des Krieges bis in die Diaspora reichen. Und in den Gedichten von Faruk Šehic, im Band Abzeichen aus Fleisch versammelt, erhalten diese Wunden eine unheimliche Poesie.
Neben einer reichen literarischen Produktion, ist auch die bosnische Film- und Musikproduktion unglaublich vielfältig und interessant. Besonders angetan hat es uns die traditionelle Sevdah-Musik, die von melancholischen Liedern geprägt ist. Amira Medunjanin überträgt die Sevdahs in moderne Arrangements, die Mostar Sevdah Reunion führt vor, wie Bosniaken und Kroaten in Mostar über diese alten Lieder zusammengeführt werden könnten. Aus den vielen Filmen von bosnischen Filmschaffenden hat uns Der perfekte Kreis von Ademir Kenović besonders beeindruckt. Er zeichnet ein unglaublich eindrückliches und menschliches Bild des Lebens in Sarajevo während des Krieges.
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Unser erster Themenschwerpunkt widmet sich dem Kulturraum Mittelmeer. Hier geht es uns nicht um eines der Länder, die das Mittelmeer säumen, sondern um das Meer selber und den Kulturraum, der daraus erwachsen ist. Uns interessiert, was diese Region zusammenhält, was die gemeinsamen Themen, die gemeinsamen Vorstellungen sind. Gibt es so etwas wie eine Kultur des Mittelmeers? Die hier vorgeschlagenen Texte erzählen von solch einer Kultur und untermalen diese sehr anschaulich. Gemeinsamkeiten, Anklänge, Verschiebungen werden sichtbar. Auch in der Musik lassen sich gemeinsame Themen ausmachen. In Flora und Fauna sowieso.
Andererseits ist gerade heute das Mittelmeer mehr denn je ein Grenzwall geworden, ein Niemandsland, ein Massengrab. Diese bittere Aktualität möchten wir nicht aus den Augen verlieren, sondern mehr darüber erfahren.
Zum Thema Mittelmeer empfehlen wir Ihnen die packende Biographie des Mittelmeeres von David Abulafia, der die letzten 20'000 Jahre Geschichte aus der Perspektive des Mittelmeeres anschaulich erzählt. Predrag Matvejević's Mediterran assoziiert Wörter, nautische Begriffe, Bezeichnungen für Winde, Architektur im ganzen Mittelmeerraum und schafft es, die Ahnung von einem lebendigen Kulturraum zu erwecken. Eine äusserst anregende Einführung in diesen Kultur- und Lebensraum geben auch die kurzen Essays von Fernand Braudel, Duby und Aymard.
Mit Wolfgang Bauer begleiten wir eine Gruppe von syrischen Flüchtlingen, die die Fahrt übers Meer von Ägypten aus wagen wollen, und Abu Bakr Khaal nimmt uns in poetischer Art und Weise auf seine beschwerliche Reise in den Norden mit. Jonas Carpignano sucht in seinem preisgekrönten Film Antworten zum Ausbruch der Unruhen in Rosario 2010. Mit Ignacio Aldecoa fahren wir zwar nicht aufs Mittelmeer, aber seine Beschreibung des Fischfangs vor der irischen Küste ist so eindrücklich und unvergleichlich, dass wir ihn einfach nicht weglassen können.
Mit Tutti Frutti zeigt Gabriela Wachter uns anhand von wunderschönen Illustrationen die Vielfalt der mediterranen Flora, und Jules Michelet sinniert 1861 über den Ursprung allen Lebens aus dem Meer. Literarisch zeichnet Mathias Énard eine Karte der Kriege rund ums Mittelmeer.
Die musikalischen Verbindungen zwischen den verschiedenen Mittelmeerländern sind schön auf dem Rough Guide to the Mediterranean zu hören.
Hier kommen Sie auf die Länderseite zum Kulturraum Mittelmeer und können in unserem gesamten Sortiment zum Thema schmökern.
Der Süden Frankreichs – das ist für die meisten von uns ein Versprechen von Sonne, Meer, Ferien … Aber Südfrankreich, bei uns bedeutet das die Provence-Côte d'Azur und Okzitanien (früher Languedoc-Roussillon und Pyrenäen), hat nicht nur eine reiche Geschichte von Austausch, Vernetzungen und einer faszinierenden provenzalischen Kultur, sondern auch von grausamen Kriegen, Massakern, Unterdrückung, die in der einen oder anderen Form heute noch Teil des Alltags sind. In der Literatur lassen sich viele dieser Facetten der Gegend entdecken und nachempfinden. Mit unserem Themenschwerpunkt laden wir Sie zu dieser Entdeckungsreise ein!
Ombrière von Norman Forster, Marseille © Charlotte Nager
Connie Leu, unsere Gastkorrespondentin aus Marseille, unterrichtet Sprachen und Geschichte. Sie lebt zurzeit in Marseille und nährt sich von der Fülle der Literatur und von der Liebe zur französischen Sprache. Während des kommenden Jahres wird sie in regelmässigen Blogbeiträgen von ihren kulturellen und alltäglichen Begegnungen und Entdeckungen aus dieser faszinierenden Stadt berichten. Lesen Sie hier ihre Beiträge.
Der Süden Frankreichs, ursprünglich von Ligurern, dann auch von Kelten besiedelt, war schon immer ein Ort des Austauschs, des Handels, aber auch von Kriegen und Eroberungen. Die Griechen gründeten Massalia, das heutige Marseille, die Römer haben Gallien beherrscht, im 8. Jhd. haben Araber, Sarazenen genannt, den ganzen Süden Frankreichs erobert. Die Kämpfe mit den Sarazenen und die Auseinandersetzung mit dem Islam schildert Wolfram von Eschenbach in seinem Epos Willehalm, das den Sagenstoff um Guillaume d’Orange aufnahm, einem Enkel von Karl Martell, der unter Karl dem Grossen und Ludwig dem Frommen in vielen Schlachten gegen die Sarazenen gekämpft hatte. Das Epos zeichnet sich durch seine tolerante Haltung gegenüber dem Islam aus.
Ende des 10. Jh. haben die Kapetinger die Macht übernommen – mit ihnen beginnt die Geschichte des heutigen Frankreichs. Das Reich bestand aus mehreren Fürstentümern, die prinzipiell den König anerkannten. Im 12. Jhd. hatte in ganz Europa, aber insbesondere im Süden Frankreichs, in Toulouse, Albi, Agen und Carcassonne, die Katharerbewegung Fuss gefasst. Auf der Grundlage ihrer dualistischen Bibelauslegung, wandten sie sich gegen den katholischen Klerus. Sie waren bei der Bevölkerung beliebt, und ausser den kleineren Fürsten gab es keine übergeordnete Autorität. Bis der Albigenserkreuzzug von 1209-1229, angeführt von Philipp II. und Papst Innozenz III., mit äusserster Brutalität die Katharer verfolgte und fürchterliche Massaker an der Bevölkerung anrichtete. Als Konsequenz (oder vielleicht doch als Auslöser?) hat dieser Kreuzzug zu einer eigentlichen Kolonialisierung des Languedoc geführt. Die örtlichen Fürsten verschwanden, die ganze Region wurde direkt dem König unterstellt. Zbigniew Herbert schildert diesen Krieg gegen den Süden Frankreichs in seinem Essay Opfer der Könige auf eindrückliche Weise. Der Kreuzzug brachte die Instrumente der Inquisition mit sich und den Niedergang der provenzalischen Kultur, so auch der Troubadoure. Die provenzalische Sprache begann zu verschwinden.
Im späten 16. Jahrhundert fand der Protestantismus in Frankreich Einzug. Nachdem Ludwig XIV. das 1598 abgeschlossene Edikt von Nantes, das den Hugenotten in Frankreich religiöse Toleranz und volle Bürgerrechte gewährte, 1685 aufhob, kam es in ganz Frankreich zum Widerstand. Aber nur in den Cevennen, einer der ärmsten Gegenden Frankreichs, führte dieser zu einem Aufstand. Der Widerstand der Kamisarden, den Bauern und Handwerkern, wurde blutig niedergeschlagen, dauerte aber als Guerillakrieg bis 1704 und endete mit der Entvölkerung der Cevennen. Ludwig Tieck schildert diesen Krieg in seiner 1826 verfassten Novelle Der Aufruhr in den Cevennen.
Wie man sich das städtische Leben in Marseille um die Zeit nach der Französischen Revolution, mit seiner langsam an ihr Ende gelangenden Adelsgesellschaft, seinen korrupten Bankiers und den urbanen Orten der Unterhaltung, vorstellen kann, beschreibt Emile Zola in seinem Roman Die Geheimnisse von Marseille, zusammengestellt aus faits divers der zeitgenössischen Presse. Auch die Julirevolution, mit den in Marseille errichteten Barrikaden, spielt eine zentrale Rolle. Den abgelegenen Dörfern und ihrer Bevölkerung um ungefähr dieselbe Zeit hinterlässt Jean Giono mit seinem Roman Ein Mensch allein ein eindrückliches Porträt. Sein Roman spielt ebenfalls um 1840 in der tief verschneiten Haute-Provence, die von den politischen Ereignissen in den Städten offenbar sehr losgelöst ist. Und wo die Langeweile Menschen zu existenzieller Verzweiflung führen kann.
Auch der Erste Weltkrieg ging natürlich nicht spurlos an der südfranzösischen Welt vorbei. In seinem Krimi, Das ermordete Haus, der anfangs des 20. Jahrhunderts spielt, beschreibt Pierre Magnan die Gesellschaft der ländlichen Provence, wie sie nach dem Krieg ausgesehen hat, nicht zuletzt mit den aus den Schützengräben zurückgekehrten Minenopfern. Der Zweite Weltkrieg wiederum hat Südfrankreich als freie Zone während der ersten Kriegsjahre einen besonderen Status beschert. Insbesondere Marseille wurde zum Sammelbecken von aus Deutschland flüchtenden jüdischen und nicht-jüdischen Intellektuellen. Anna Seghers beschreibt dieses verzweifelte Warten und Hoffen auf ein Visum in Marseille in ihrem zeitlosen Roman Transit. Auch in Sanary-sur-Mer hat sich eine Exilgemeinde von deutschen Künstlern und Künstlerinnen gebildet. Lisa Fittko beschreibt in ihrem Erinnerungsbericht Mein Weg über die Pyrenäen auch davon, wie sie im berüchtigten Frauenlager von Gurs interniert worden war.
Bereits vor den beiden Weltkriegen hat sich der Süden Frankreichs zum grossen Sehnsuchtsort entwickelt, wo Wintergäste, Kurgäste, Touristen eine Befreiung vom kalten, engen Norden und dessen Regeln suchten. In seinem lesenswerten Roman, Ein Winter in Nizza, imaginiert Christian Schärf die Aufenthalte von Friedrich Nietzsche von 1883-1888 ebenda. Emily Walton nimmt uns in ihrem kleinen Roman, Der Sommer in dem F. Scott Fitzgerald beinahe einen Kellner zersägte, mit zu den Anfängen des amerikanischen Tourismus an der Côte d’Azur, zusammen mit den jungen Wilden, Hemingway und F. Scott Fitzgerald. Auch Klaus und Erika Mann haben 1931 die südfranzösische Küste bereist und ihre Erlebnisse in den mondänen Touristenorten in Das Buch von der Riviera beschrieben. Für Monsieur Mahé, in Simenons Roman Die Ferien des Monsieur Mahé, bedeutet die Sonne und Hitze auf Porquerolles eine langsame Befreiung aus den gewohnten Zwängen. Ein spannendes psychologisches Drama spielt sich unter südlichem Himmel ab.
Doch die Fremden sind nicht nur erholungssuchende Feriengäste. Schon ab 1860 kamen zahlreiche Einwanderer aus Italien, Spanien und anderen Ländern, um Arbeit auf den grossen Baustellen, den Salinen oder den Weinbergen zu suchen. Das geschah nicht immer in Minne. Am Beispiel des Massakers 1893 an italienischen Arbeitern, die in den Salinen von Aigues-Mortes beschäftigt waren, beschreibt Gerard Noiriel in seinem Buch Le Massacre des Italiens, welche Faktoren zu einem solchen Pogrom hatten führen können. Auch eine grosse Zahl von Menschen aus Algerien haben während der Kolonialzeit, selbst als «Staatsbürger zweiter Klasse», ihr Glück in der «Mutternation» gesucht; andere sind nach dem Abzug der Franzosen 1962 aus Algerien als Harkis, also als Hilfskräfte der französischen Kolonialverwaltung, nach Frankreich evakuiert worden; viele sind bis heute auf der Suche nach Arbeit nach Frankreich gelangt. Nach dem Verlust «ihrer» Kolonie und dem Festhalten an rassistischen Reflexen war diese Einwanderung alles andere als einfach. Alice Zeniter thematisiert dieses (Nicht-)Ankommen in Frankreich in ihrem sehr lesenswerten Roman Die Kunst zu verlieren. Die Nähe wie auch die Fremde zwischen dem Süden Frankreichs und dem Norden Afrikas kommt in der Graphic Novel von Benoît Guillaume und Navel Louerrad, Alger-Marseille, allers-retours, schön zum Ausdruck. Auch aus den nördlichen Bergregionen, wie den Savoyen, machten sich in den 1950er-Jahren viele Menschen auf den Weg in den Süden, auf der Suche nach Arbeit, etwa für den Bau des Staudamms Malpasset, nördlich von Fréjus, wie das Maryline Desbiolles in ihrem bezaubernden Roman Rupture erzählt. Und ewig Fremde sind die Gitans. Fernanda Eberstadt hat in ihrer Reportage Le Chant des Gitans das Leben einer Familie in Perpignan begleitet, wo die grösste Gitan-Gemeinde Frankreichs lebt. Sie sind Nachfahren der spanischen Kalé und unter der Vichy-Regierung gezwungen worden, sich niederzulassen. Eberstadts Reportage gewährt einen einmaligen Einblick in diese abgeschlossene Lebenswelt.
Einen Blick auf das vergangene Leben in der Crau und den Alpilles wirft Sylvain Prudhomme in seinem Roman Legenden. Ausgehend von einer Diskothek in der Camargue, die in den 80er Jahren ein lebendiger Treffpunkt war, beschreibt Prudhomme die langsam verschwindende Welt der gardiens und der Alpsommer in den Alpilles. Christian Signol hat die Lebenserinnerungen von Marie des Brebis, die als Schafhirtin in Quercy gelebt hat, aufgeschrieben. Dadurch können wir etwas von der Lebensart in der urtümlichen Gegend im Südwesten Frankreichs erhaschen. Und die von 1926 stammenden provenzalischen Erzählungen aus der Camargue, La caraco, von Joseph d’Arbaud, erlauben in ihrer zweisprachigen Ausgabe sogar einen Eindruck von der Schönheit des Provenzalischen.
Das sprudelnde kulturelle Zentrum bildet natürlich Marseille, die zweitgrösste Stadt Frankreichs. Immer schon widerborstig und in tausend Facetten schillernd, entspricht die Hafenstadt auch heute nicht dem lieblichen Bild Südfrankreichs. Mafia, Bandenkriege, Drogenumschlagplatz, die Quartiers Nords – sie gehören zum Marseiller Alltag. Günter Liehr hat mit Marseille. Porträt einer widerspenstigen Stadt ein ausgezeichnetes Buch über die Stadt und ihre Geschichte geschrieben. Philippe Pujol, ein einheimischer Journalist, beschreibt in seiner Reportage, Die Erschaffung eines Monsters, die Mechanismen welche die Entstehung, aber auch die Fortsetzung von Ungleichheit und sozialen Problemen begünstigen. Der schöne Roman, Corniche Kennedy, von Maylis de Kerangal, setzt mit einer Gruppe von Jugendlichen, die sich nicht von ihren Sprüngen von den Felsen ins Meer abhalten lässt, der Widerständigkeit ein Denkmal. Marseille ist natürlich auch eine unerschöpfliche Quelle für zahlreiche Krimiautoren, Jean-Claude Izzo ist mit seiner Marseille-Trilogie der wohl bekannteste unter ihnen. An zahlreichen Orten in Marseille wird an ihn erinnert. Auf seinen Spuren lassen sich das Panier-Quartier erkunden ebenso wie die Calanques.
Stoff für Krimis bietet aber nicht nur Marseille: Alexander Oetker folgt in seinem packenden Buch Zara & Zoë den miteinander verstrickten mafiösen, islamistischen und rechtspopulistischen Strukturen, die ja sehr stark sind in dem weltoffenen Süden Frankreichs, bis nach Nizza. Xavier-Marie Bonnots Kommissar, Michel de Palma, führt uns Im Sumpf der Camargue ins Naturparadies des Rhonedeltas, aber auch in die Provence der reichen Rentiers und in die Zeit der Besatzung durch die Deutschen – sogar noch weiter zurück in die Zeit der provenzalischen Legenden.
Manfred Hammes streift mit seinem Reisebegleiter Durch den Süden Frankreichs kreuz und quer durch die verschiedenen Gegenden, schreibt von abgelegenen Orten, von kleinen Museen, von versteckten Restaurants. Mit dem Fokus auf die Literatur lädt er seine Leserschaft zu einer spannenden Reise in die (Literatur-)Geschichte Südfrankreichs. Und diese ist überaus reich: Marcel Pagnol, Alphonse Daudet, Frédéric Mistral, Jean Giono, um nur einige der Klassiker der südfranzösischen Literatur zu nennen. Eine wunderbare Einladung zur Entdeckung der weniger bekannten Regionen, voller Anekdoten und Hinweise auf neue Spuren. Wer auf eigenen Füssen die Provence durchwandern will, hat mit François Meienbergs Wanderführer Zu Fuss durch die Provence eine perfekte Begleitung.
Auch musikalisch hat der Süden Frankreichs einiges zu bieten: von der Rap-Band IAM, die Izzo auf seinen Ermittlungen begleitet, über Massilia Sound System, die auf Provenzalisch singen, bis zur Compagnie Rassegna, welche die unterschiedlichen musikalischen Traditionen – spanisch, italienisch, nordafrikanisch, armenisch –, die in Marseille aufeinandertreffen, miteinander zu wunderbaren Liedern verknüpft.
Und zu guter Letzt – natürlich etwas vom Wichtigsten – lässt sich eine Reise nach Südfrankreich auch kulinarisch in vollen Zügen geniessen. Nach- oder vorgekocht werden kann etwa mit Hilfe des Kochbuchs Provence von Murielle Rousseau. Ins Périgord führt dann auf kulinarische Art und Weise Brunos Garten von Martin Walker und Julia Watson.
Hier finden Sie noch weitere Empfehlungen von uns zu Büchern, die in Südfrankreich spielen:
Wenn wir an den Libanon denken, kommen uns die wunderbaren Mezze beim libanesischen Restaurant um die Ecke in den Sinn, bald dann aber der Bürgerkrieg von 1975-1990 und die Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Shatila. Dass der Libanon ein kulturelles Zentrum der ganzen Region ist, viele Verlage ihre Heimat in Beirut haben und vielfältigste kulturelle Produktionen dort entstehen, entzieht sich meist unserem Wissen.
Tausend und zwei Gründe, weshalb es sich lohnt, einen oder mehrere Blicke auf dieses Land zu werfen. Deshalb freuen wir uns sehr, dass wir eine kleine Gruppe von kulturell interessierten und tätigen Personen aus Beirut dazu gewinnen konnten, Beiträge für die Kulturnotizen aus Beirut zu verfassen.
Beirut, Sin El Fil © Charlotte Nager
Zu unserem Themenschwerpunkt Libanon werden verschiedene Personen Beiträge für unsere Kulturnotizen aus Beirut schreiben. Dabei soll es in erster Linie um Reflexionen zu kulturellen Ereignissen gehen, um Impressionen zum kulturellen Leben in dieser quirligen Stadt. Diana Halabi ist Künstlerin.
Gisela Nauk ist Politökonomin und lebt und arbeitet in Beirut.
Hier geht es zu den Beiträgen.
Der Libanon in seiner heutigen Form ist erst nach dem Zusammenbruch des osmanischen Reiches entstanden. Wie England und Frankreich die ehemals osmanischen arabischen Gebiete untereinander aufgeteilt haben, welche Intrigen und welche strategischen Überlegungen zum heutigen Libanon geführt haben, ebenso wie sich der Staat bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges entwickelt hat, lässt sich gut in A History of Modern Lebanon von Fawwaz Traboulsi nachlesen. Sein Buch ermöglicht, die heutigen Ereignisse im Libanon und im ganzen Nahen Osten besser zu verstehen. Entlang der Schicksale einzelner Familien aus der ganzen Levante erzählt auch Gilbert Sinoué in seinen beiden Bänden Le souffle du jasmin und Le cri des pierres auf nachvollziehbare Weise die Geschichte der Region.
Nachdem der Libanon 1946 die volle Souveränität erhalten hat, entwickelte sich ein Parteiensystem, in dem die konfessionelle Zugehörigkeit wichtiger war als das politische Programm. Jabbour Douaihy thematisiert in seinem Roman Morgen des Zorns wie dieses System in der Folge zu einer regelrechten Feudalisierung der Politik geführt hat.
Mit der Gründung Israels flüchteten 380'000 Palästinenser und Palästinenserinnen in den Libanon. Elias Khoury schildert in berührender Weise in seinem leider nur noch auf Englisch erhältlichen Buch Gate of the Sun das Schicksal der in den Libanon geflohenen Palästinenser und deren Dasein zwischen der verlorenen Heimat und dem eigenartig ausgegrenzten Dasein in den Flüchtlingslagern im Libanon. Das immer gewaltsamere Aufeinandertreffen bewaffneter Milizen, palästinensischer und christlicher, rechtsradikaler Falange, und die Interventionen Syriens und Israels führten schliesslich zum Ausbruch des Bürgerkrieges 1975. Die bildende Künstlerin und Schriftstellerin Etel Adnan analysiert in ihrem leidenschaftlichen Kurzroman Sitt Marie-Rose die zu diesem Zeitpunkt herrschenden Konflikte zwischen Christen und Palästinensern.
Der Bürgerkrieg selber wurde vom Journalisten Robert Fisk in Pity the Nation minutiös beschrieben. In seinen Reportagen kann man seinen klugen Analysen zum nahöstlichen Gefüge folgen, zu den Massakern von Sabra und Schatila, zu der Logik des Bürgerkrieges, aber auch zur Geschichte des Journalismus und wie dieser in den 80er Jahren funktioniert hat. Der Krieg selber bildet den Nährboden für zahlreiche künstlerische Auseinandersetzungen mit den traumatischen Erlebnissen. Hier gilt es an erster Stelle das äusserst beeindruckende Buch The Stone of Laughter von Hoda Barakat zu erwähnen, die auf berührende Weise beschreibt, was ein Krieg mit den Menschen macht, die ihn erleiden müssen. Zeina Abiracheds eindrückliche Graphic Novel Das Spiel der Schwalben erlaubt uns einen persönlichen Einblick in den Kriegsalltag ihrer Familie in den 80er Jahren.
Mit dem auf das Kriegsende folgenden Wiederaufbau von Beirut erlebte die Gesellschaft ganz grundlegende Veränderungen – und auch Entfremdungen, wie diese von Hassan Dawud in seinem melancholisch-beklemmenden Der Gesang des Pinguins geschildert werden. In dieser Zeit spielt auch das unbedingt lesenswerte Buch Marjams Geschichten von Alawiyya Sobh, ein Mosaik von Frauenschicksalen. Den Blick auf die Umgestaltung der Stadt Beirut legt Rabee Jaber in seinem Roman The Mehlis Report, der 2005 nach dem Attentat auf den Premierminister Rafik Hariri spielt. In Ali and his Russian Mother verleiht Alexandra Chreiteh in frischer und frecher Sprache derjenigen Generation eine Stimme, die im Spannungsfeld Hisbollah-Israel aufgewachsen ist und den Zweiten Libanonkrieg 2006 miterlebt hat. Einen sehr empfehlenswerten Einstieg in die neuere Geschichte des Libanon hat der polnische Autor Stanislaw Strasburger mit seiner Sachbuch-Fiktion Besessenheit. Libanon verfasst.
Nun ist es ruhiger geworden im Libanon – aber stabil ist die Situation nicht. Mit dem Krieg in Syrien sind rund 1,5 Millionen Geflüchtete in den Libanon gekommen. Im Roman An Unsafe Haven stellt sich Nada Awar Jarrar die Frage nach der Möglichkeit von Heimat nach dem Erleben einer Flucht, nach Zugehörigkeit in einem Land, in dem man nicht aufgewachsen ist. Für die Geflüchteten aus Syrien wiederholt sich das Schicksal der Flucht und Heimatlosigkeit für Millionen Menschen einmal mehr. In einem aussergewöhnlichen Projekt des Peirene Verlages, den Shatila Stories, erhalten die Geflüchteten selber Raum, ihren Alltag und ihre Geschichten zu erzählen.
Trotz der Kriegs- und Fluchterinnerungen, die tiefe Spuren im Leben der Menschen hinterlassen haben, ist Beirut eine quirlige und lebendige Stadt, voll von Gegensätzen und Widersprüchen. Einen Einblick in diese Fülle an Eindrücken gibt das sehr schön gemachte Buch Beyrouth, chroniques et détours des Autorenkollektivs Mashallah.
Aus der Vielfalt der musikalischen und filmischen Produktionen aus dem Libanon möchten wir an dieser Stelle auf den Film West-Beyrouth, der den Alltag von drei Jugendlichen während des Bürgerkrieges nachzeichnet, und auf die spannende zeitgenössische Band Mashrou’ Leila verweisen. Einen wunderbaren Überblick über die Musikszene im Nahen Osten von den 1920ern bis in die 70er Jahre gibt uns Lamia Ziadé in ihrer einzigartigen Graphic Novel Ô nuit, ô mes yeux.
Auf unserer Länderseite von Libanon und auf der Seite zu der ganzen Region finden Sie noch weitere Bücher, Filme und Musik.
Unseren zweiten Themenschwerpunkt widmen wir Syrien. Syrien ist in unserem Alltag so präsent wie noch nie geworden, und die schlechten Nachrichten aus diesem kriegsgeschüttelten Land reissen nicht ab. Neben den aktuellen Kriegsereignissen interessiert uns hier die Geschichte des Landes. Auf welchem Boden sind die Zustände gewachsen, die die desaströse Gegenwart ermöglicht oder vielmehr bedingt haben? Und wie geht es den Leuten, die nach wie vor in Syrien leben?
Wir freuen uns, dass Elena Wetli, eine in Syrien lebende Schweizerin, sich bereit erklärt hat, Berichte aus dem syrischen Alltag zu verfassen. Was erzählen die Menschen über ihre Situation in Syrien, was treibt sie um, wie sieht der Alltag in Tartus aus? Alle zwei Wochen werden wir einen neuen Beitrag von Elena Wetli aufschalten.
Für unseren Themenschwerpunkt Syrien hat die in Tartus lebende Ethnologin Elena Wetli von Mai bis August 2017, mehrheitlich während des Ramadans, Beiträge zum Alltag in der syrischen Hafenstadt Tartus und im Umland verfasst. Wir haben sie gebeten, uns einen kleinen Einblick in den Alltag der Menschen im kriegsversehrten Syrien zu geben. Wie geht es den Menschen, was hoffen sie, was denken sie und was treibt sie um? Im Abstand von je drei Wochen schalten wir die Beiträge von Elena Wetli auf unsere Webseite.
Hier finden Sie ihre Beiträge.
Wir haben für Sie eine Zusammenstellung von einigen Titeln zu und aus Syrien gemacht, die uns gefallen, beeindruckt, berührt haben: Michael Sommer führt uns auf sehr lesbare und nachvollziehbare Weise zurück in die Geschichte der Antike, nach Hatra, Jerusalem, Aleppo, Palmyra. Einen visuellen Eindruck von diesen Orten und die Diskussionen um diese Schätze in den Wirren des Bürgerkrieges finden Sie im bebilderten Buch von Mamoun Fansa. Gertrude Bell, man nennt sie auch die weibliche Lawrence of Arabia, beschreibt humorvoll und kenntnisreich ihre Reise in das Syrien von 1905. Gerhard Schweizer gibt einen äusserst spannenden Überblick über die Geschichte des Nahen Ostens seit der Antike bis in die Neuzeit – die verschiedenen politischen wie auch kulturellen und religiösen Strömungen, das immer schon prekäre Verhältnis zwischen dem Orient und dem Okzident. John McHugo präsentiert uns eine dichte Beschreibung der Geschichte Syriens der letzten hundert Jahre. Sein Text ist insbesondere empfehlenswert zusammen mit dem Buch seiner Frau, Diane Darke. Sie beschreibt die neueren Ereignisse Syriens als persönliche Reportage, entlang des Erwerbs und des Bewohnens eines Hauses in Damaskus. Ihre Analyse der Gesellschaft und ihre kulturellen und philosophischen Überlegungen ermöglichen uns einen aufschlussreichen Innenblick auf die Region. Im Film Al-Leil von Mohamed Malas nehmen wir teil am Schicksal einer Kleinstadt und ihrer Bewohner und Bewohnerinnen in den syrischen Golanhöhen und erfahren eine ganze Menge zu den politischen Ereignissen der 60er Jahre.
Literarisch lässt sich die drückende Schwere des Assad-Regimes in Syrien seit 1970 insbesondere in der sehr melancholischen, äusserst lesenswerten Familiengeschichte von Khaled Khalifa erfahren. Sie führt uns in die Resignation und das Schweigen der 70er und 80er Jahre unter Assad. Die Grausamkeit und Härte dieses Regimes gegenüber seinen Bürgern und Bürgerinnen lässt sich in dem beeindruckenden Gefängnisroman von Mustafa Khalifa auf schockierende Art erahnen. Die äusserst grausame Haltung gegenüber Menschen, die sich nicht dem Regime unterordnen, versucht Daniel Gerlach in seiner Analyse des Herrschaftssystems unter Assad zu erklären.
Die aktuellen Zustände seit dem Ausbruch des Krieges 2011 dokumentiert Samar Yazbek in sehr persönlicher Weise mit ihren Reportagen. Sie erlaubt uns durch ihr Schreiben einen tiefen Blick in die Wünsche und Ängste der Menschen, die sich für eine Veränderung der Verhältnisse eingesetzt haben. Larissa Bender stellt uns eine ganze Reihe von Kulturschaffender in und aus Syrien vor und führt uns vor Augen, wie wichtig Kunst und Kultur gerade in den Zeiten sind, da man eigentlich denken könnte, dass nur noch das Überleben zählt.
Einen visuellen Blick auf die Komplexität der Kriegssituation gewährt uns Hamid Sulaiman mit seiner Graphic Novel über ein Untergrundspital im Norden Syriens. Mit seinen expressionistischen Zeichnungen ist dieses Buch eine Entdeckung, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Das eigene Empfinden gegenüber der Zerstörung der Heimat, der Stadt, der Familie finden wir einerseits in den tieftraurigen Miniaturen von Niroz Malek, in denen die Grenze zwischen Leben und Tod in irritierender Art und Weise verwischt wird. Er wollte Aleppo und seine Heimat nicht verlassen. Hamed Abboud, der mit fantastischen Elementen und mit viel schwarzem Humor seine Flucht aus Syrien nach Österreich beschreibt, eröffnet uns dank seines lyrischen Könnens einen neuen Blick auf das kriegsgeschüttelte Syrien – und auf die Flucht, die seit Kriegsbeginn für so viele Menschen aus Syrien zur Realität geworden ist.
Orient-Occident II von Jordi Savall erweist Syrien eine musikalische Hommage.
Auf unserer Syrien-Seite können Sie unser ganzes Sortiment zu Syrien durchforschen, denn es gibt natürlich noch viele weitere Autoren und Autorinnen, die wir Ihnen gerne empfehlen, und weitere Bücher über die Region, ihre Geschichte, den aktuellen Krieg. Sie finden dort auch Musik und Filme aus Syrien. Aktuell legen wir Ihnen hier die Bücher (Ebenholz, Wächter der Lüfte) von Rosa Yassin Hassan ans Herz, die im November und Dezember in Zürich zu treffen sein wird.